DER
ESPRESSO FÜR SIEBZIG ESCUDOS



Pischke, Theo














Fernando Pessoa saß häufig an Kaffeehaustischchen. Das eigentliche Zuhause des Poeten, der nach seinem Tode als größter portugiesischer Dichter der Moderne gefeiert wurde, waren die Straßen, Wirtshäuser und Cafés von Lissabon. Nach getaner Tagesarbeit als freier Handelskorrespondent und Übersetzer von Geschäftsbriefen in den Firmenkontoren der Baixa, der Unterstadt, war seine Lebensarbeit das Dichten. Viele seiner Verse entstanden in seinem Stammcafé "Martinho da Arcada" am Praça do Comercio.


Eröffnet wurde das "Martinho da Arcada" 1782, und es existiert heute noch. Doch ob der 1935 im Alter von 47 Jahren an Leberzirrhose gestorbene Dichter dort heute noch Stammgast wäre, ist fraglich.


Der größte Teil des einstigen Cafés wurde umfunktioniert in ein Restaurant der gehobenen Preisklasse. Kaffee trinken kann man nur noch draußen unter den Arkaden und drinnen in einer Art kleinem Vorraum.


Am Tresen kippen Sekretärinnen der Ministerien von nebenan und Bankangestellte ihren Espresso - hastig und im Stehen. Dazu verschlingen sie ein Pastetchen. Die Atmosphäre ist hektisch. Kein Ort zum Dichten. An Fernando Pessoa erinnert nur noch ein Portrait links neben der Theke, mit blauer Farbe an die weißen Wandfliesen gemalt: der Dichter, den rechten Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt, den Kopf leicht gesenkt, vertieft in ein Manuskript. Das "Martinho da Arcada" ist zwar nicht mehr Pessoas Platz, doch es existiert noch. Andere traditionelle Cafés sind verschwunden. "Mehr als zwanzig haben in den vergangenen Jahren für immer geschlossen", sagt António Fonseca Ferreira, ehemaliger Chef des Lissaboner Stadtplanungsdezernats, der als einer der ersten auf das Verschwinden der Cafés als Orte der Kultur hingewiesen hat. Am Rossio-Platz waren es beispielsweise das "Chave d'Ouro" und das "Martinho".


Beide mußten Banken weichen. Das einstige "Café Gelo" ist heute ein Fast-food-Lokal. Am Chiado-Platz traf es die beiden Cafés "Pastelaria Marques" und "Leitaria do Chiado".


"Die Logik des Geschäfts" nennt dies Fonseca Ferreira. Cafés sind nicht immer lukrativ, denn die bica, die Tasse Espresso, kostet wenig: siebzig Escudos, gerade einmal 75 Pfennig. Deshalb gibt es Kaffeehausbesitzer, die aus ihren Lokalen etwas Gewinnbringenderes machen wollen. Sie vermieten oder verkaufen ihre wertvolle Immobilie - vorzugsweise an Banken, denn die zahlen fast jeden Preis. "Normalerweise befinden sich Cafés an zentralen Plätzen. Und Banken sind auf der Suche nach solchen Stellen", erläutert Fonseca Ferreira.


Die Stadt könne gegen die Umwandlung der Kaffee- in Bankhäuser gar nichts tun. Beide gehören schließlich zum selben Sektor, dem kommerziellen. "Nur wenn Wohngebäude für kommerzielle Zwecke umgebaut werden sollen, kann die Stadt eingreifen."


Noch gibt es sie in der portugiesischen Hauptstadt, die alten, schönen Cafés. "Doch alle sind in Gefahr", erklärt Fonseca Ferreira.


Jüngstes Beispiel: das "Mexicana" an der Praça de Londres. Sein Besitzer wollte eine Vergrößerung des Cafés mit einer radikalen Modernisierung verbinden, was zum Beispiel die Wandfliesenbilder des Malers Querubim Lapa zerstört hätte. Kaffeehausliebhaber und die portugiesische Architektenvereinigung starteten daraufhin eine Unterschriftensammlung zur Erhaltung. Der Besitzer lenkte ein, er wollte dann doch nicht seine Stammkundschaft verlieren.


Und die ist nach der nun behutsamen Renovierung geblieben. An den Tischen wird gelesen, werden Lottoscheine ausgefüllt. Ein Schuhputzer wienert einem weißhaarigen Mann mit Hornbrille die schwarzen Schuhe blank. Die Szene hat nichts Unterwürfiges. Der Schuhputzer ist so alt wie sein Kunde, und ihr Gespräch ist angeregt.


Wenn der Schuhputzer auf der Suche nach Kundschaft durch das Café geht, wahrt er Würde. Er preist sich nicht an, drängt sich nicht auf. Er läßt sich herbeiwinken.


Auch das "Brasileira" hat einen Schuhputzer. Er tut seine Arbeit vor dem Eingang. Vor vier Jahren berichtete die portugiesische Presse voller Besorgnis über Schließungspläne des berühmten Cafés am Largo do Chiado. "Das Ende des Brasileira?" titelte fragend die Lissaboner Zeitung Público. Grund für den Alarm: Jaime Soares da Silva, der Besitzer, hatte gedroht, es in ein, so kalkulierte er, mehr Geld bringendes Fast-food-Lokal umzuwandeln, wenn sich die Stadt nicht an den Kosten einer notwendig gewordenen Renovierung beteilige. Einen ganzseitigen Artikel widmete Público diesem Thema und einen Kommentar obendrein. Denn das "Brasileira" sei schließlich nicht irgendein Café, sondern ein "Symbol für Kultur und städtisches Leben eines ganzen Jahrhunderts". 1906 wurde es gegründet. Von einem Portugiesen, der sein Glück in Brasilien machen wollte, doch unverrichteter Dinge wieder zurückgekehrt war. Er machte das Kaffeetrinken in Lissabon populär. Und noch heute steht auf der Markise, die den Eingang beschattet: "Den besten Kaffee gibt es im Brasileira".


Das Café entwickelte sich rasch zum Treffpunkt der Hauptstadtboheme.


Maler und Dichter hatten dort ihr zweites Zuhause. Der Modernist Almada Negreiros portraitierte sich im Kreise seiner Freunde im "Brasileira" sitzend. Almada Negreiros ist seit 27 Jahren tot.


Schriftsteller und Maler finden sich nur noch selten im "Brasileira" ein. Doch abends treffen sich dort Studenten auf eine bica - bevor sie ein paar Straßen weiter, im Bairro Alto, eintauchen ins Nachtleben.


Auch wenn's letztlich keine Zuschüsse von der Stadt zur Renovierung gab, blieb das Café und wurde nicht zum Fast-food-Laden.


Fernando Pessoa war sonntags Gast im "Brasileira", weil das "Martinho do Arcada" dann geschlossen hatte. Und bis vor kurzem war er auch noch präsent - als Bronzedenkmal vor dem Café. Doch die Pessoa-Statue ist derzeit abmontiert. Denn am Chiado wird eine U-Bahnstation gebaut. Wo der bronzene Pessoa stand, zirkelt eine blecherne Sichtblende die Baustelle ein. Der daraufgepinselte Werbespruch der städtischen Verkehrsbetriebe macht eine Anspielung auf den Dichter: Die Metro em pessoa (persönlich) komme an den Chiado.


Am Rossio, direkt im Stadtzentrum, hat der U-Bahn-Bau die Cafészene arg beeinträchtigt. Wegen der Bauarbeiten ist das "Nicola" vorübergehend geschlossen, das "Suiça" verzichtet gezwungenermaßen auf seine Esplanada - die Loge, um das Treiben auf Lissabons geschäftigstem Platz zu beobachten.


Die U-Bahn wird erweitert wegen der Expo 98. Spätestens zu Beginn der Show, im Mai kommenden Jahres, soll sie fertig sein. Und die Expo-Besucher werden dann auch wieder im "Nicola" einkehren können.


Kaffeezeit am Rossio - derzeit nur möglich in der "Confeitaria Nacional". Ein Café der Kaffeetanten, unter die sich vereinzelt Kaffeeonkel mischen. Das Publikum ist meist gehobenen Alters.


Doch eine alte Dame wirkt seltsam jung, wenn sie das Mündchen spitzt, um mit dem Strohhalm den letzten Rest eisgekühlten Orangensaft aus dem Glas herauszuschlürfen. So hat sie es vielleicht vor 65 Jahren schon gemacht, als sie mit ihren Eltern nach dem Sonntagsspaziergang ins Café ging.


Feine Damen und Herren sind im "Versailles" an der Avenida da República anzutreffen. Der Kellner serviert eine Tasse Kaffee und ein Stückchen Kuchen auf insgesamt fünf Tellern: einen für das Zuckertütchen, einen für den Kuchen, einen mit Gabel und Serviette, eine kleine Untertasse, die auf einer etwas größeren Untertasse steht - und darauf dann die Kaffeetasse. Die Kellner tragen weinrote Westen über blütenweißen Hemden und lange weiße Schürzen über trauerschwarzen Hosen. Korrekt, wohlgeordnet.


Das Zusammensein mit Freunden, Nachbarn, Kollegen, convivio genannt, nimmt bei den Portugiesen einen hohen Stellenwert ein. Man trifft sich im Café. "Und auch im literarischen Leben Portugals sind Kaffee und Cafés immer sehr wichtig gewesen", sagt António Mega Ferreira, Organisationschef für Portugals Teilnahme an der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Kein Buch, sondern eine Espressotasse schmückt das Plakat, mit dem Portugal, Schwerpunktthema der Buchmesse 1997, für seine Literatur wirbt. "Denn um den Tisch, auf dem die Tasse steht, sitzen Menschen, die diskutieren, die lesen", sagt Mega Ferreira. Literarische Debattierzirkel, tertúlias, gab es früher in vielen Cafés. Heute sind sie nahezu ausgestorben. Mega Ferreira hält diese Entwicklung für natürlich: Lissabon habe sich verändert.


Das Kaffeehaus als literarische Wohnstube habe ausgedient.


Neue Treffpunkte sind direkt am Tejo entstanden, bei den Docks von Alcântara. Wo noch vor zwei Jahren langsam verfallende Lagerhallen standen, reihen sich heute Bars, Cafés und Tische im Freien aneinander.


Viel Chrom und modernes Design.


Ganz anders die Atmosphäre im 1908 eröffneten "A Camponeza" in der Unterstadt. Die Bäuerin mit der Milchkanne in der Hand, die dieser einstigen Milchhandlung den Namen gegeben hat, schaut dem Besucher von einem Kachelbild entgegen. Der Fußboden ist übersät mit leeren Zuckertütchen und Zigarettenkippen. Morgens lesen dort weißhaarige Rentner ihre Zeitung. Vom späten Nachmittag an ist das Café dann fest in der Hand von Studentinnen der Kunstakademie, Tagträumern und Freaks.


Einer der Kellner heißt António da Costa Gomes, bedient hier seit fünfzehn Jahren. So steht es auf dem Ferienplan, der im Café aushängt: "Anos de serviço: 15". Und da steht auch die Anzahl seiner Ferientage pro Jahr. Es sind 22. António da Costa Gomes nimmt sie komplett im August. Seine zwei Kollegen auch. Dann schließt das Café.


Nicht für immer, Gott sei Dank. Nur für einen Monat Ferien.



Auszug aus: DIE ZEIT Nr. 19 02.05.1997 REISE




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