Antonio Tabucchi auf den Spuren
des portugiesischen Dichters
Fernando Pessoa;
Verliebt in einen Dichter

Antonio Tabucchi auf den Spuren des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa


Hamm, Peter













Von Antonio Tabucchi sprechen heißt, von Fernando Pessoa sprechen. Der 1943 in Pisa geborene italienische Schriftsteller hat den acht Jahre zuvor verstorbenen portugiesischen Dichter zu seinem Leitstern erwählt und ihm sowohl als Philologe wie als Erzähler vielfältige Reverenz erwiesen. Tabucchi, der portugiesische Sprache und Literatur an der Universität Genua lehrte, lange Leiter des italienischen Kulturinstituts in Lissabon war und mit einer um die Pessoa-Forschung verdienten Portugiesin verheiratet ist, zeichnet nicht nur als Herausgeber der italienischen Pessoa-Ausgabe und hat bedeutende Essays über Pessoa verfaßt (eine deutsche Ausgabe erschien 1992 in der Edition Akzente des Hanser-Verlags unter dem Titel "Wer war Fernando Pessoa?"), Tabucchi umkreiste auch als Erzähler immer wieder den Kosmos Pessoa und versuchte jenem Dichter auf die Spur zu kommen, der sein Genie mit Vorliebe darauf verwandte, seine Spuren zu verwischen oder vielmehr möglichst viele falsche Spuren zu legen.


Wer sich ins Labyrinth von Pessoas poetischer Welt begibt und dort den diversen Masken des Dichters begegnet - Masken, wie sie gegensätzlicher kaum denkbar sind -, den kann irgendwann der Verdacht beschleichen, "Pessoa habe nie existiert, er sei nur die Erfindung eines gewissen Fernando Pessoa, dessen gleichnamiges alter ego in einem frenetischen Reigen von Personen, die in bescheidenen Lissabonner Pensionen wohnten, zusammen mit Fernando, der dort 30 Jahre lang das höchst banale, anonyme und exemplarische Leben eines kleinen Angestellten führte" (so hat es Antonio Tabucchi in seinem Essay "Eine Truhe voller Menschen" formuliert).


Wie bei Fernando Pessoa Sein und Schein kaum je deutlich voneinander unterscheidbar sind, verwischen sich auch im erzählerischen Werk Tabucchis unentwegt die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, so daß jene Atmosphäre flirrender Vieldeutigkeit entsteht, die Tabucchis Erzählungen ihren ganz spezifischen Reiz und ihre Anziehungskraft verleiht. Tabucchi ist ein Virtuose der literarischen Anspielung, wie es vielleicht nur noch Borges war (der neben Pessoa zu Tabucchis verehrtesten Literaturheiligen zählt). Und er ist zugleich ein Zauberkünstler des Aufhebens der Zeit, was seine Affinität zu Portugal und Pessoa erklärt, bewegt sich doch kein anderes europäisches Volk auf so unsicherem Zeitgrund wie das portugiesische, dem seit dem Verlust des Weltreichs im 16. Jahrhundert der Traum mehr gilt als Tatsachen und Taten und das eben deshalb jenen Fernando Pessoa hervorbringen konnte, der mit Zeit und Raum so souverän wie kein anderer Dichter vor ihm zu spielen verstand.


Antonio Tabucchi setzte dieses Zeit-und-Raum-Verwirrspiel mit Pessoa selbst fort: Bereits in seinem "Indischen Nachtstück" katapultierte er Pessoa aus seiner in unsere Zeit und von Lissabon nach Goa. Und in seinem Einakter "Herr Pirandello wird am Telefon verlangt" arrangierte Tabucchi eine Begegnung zwischen dem italienischen Autor, der seine Bühnenfiguren auf die Suche nach ihrem Autor schickte, und dem portugiesischen Meister der Selbstverwirklichung und Selbstverflüchtigung (beide hätten sich übrigens im realen Leben durchaus begegnen können, denn Pirandello fuhr 1931 zur Premiere eines seiner Stücke nach Lissabon).


Auch in seinem 1990 geschriebenen und jetzt in deutscher Übersetzung erschienenen "Lissabonner Requiem" ist Fernando Pessoa allgegenwärtig und zugleich ungreifbar. Antonio Tabucchis Erzählung - er nennt sie im Untertitel "eine Halluzination" - spielt an einem glühendheißen Julisonntag im nahezu menschenleeren Lissabon, und ihr Protagonist (was wörtlich übersetzt ja "erster Schauspieler" heißt) ist niemand anderer als der italienische Schriftsteller Antonio Tabucchi, der an diesem Tag seinen Urlaub in einem Landhaus in Azeitao unterbricht, um an der Mole von Alcantara in Lissabon einer Verabredung mit jenem portugiesischen Dichter zu folgen, der in Wirklichkeit doch schon lange das Zeitliche gesegnet hat. Doch was ist die Wirklichkeit gegen die Beschwörungskraft der Begeisterung!


Nicht nur trifft - oder halluziniert - Tabucchi am Ende dieses Tages und nachdem er bereits mehreren anderen Menschen begegnete, "die es nur in meiner Erinnerung gibt", den gesuchten Dichter selbst, es erscheinen ihm auch alle die "realen" Personen, die an diesem Tag seinen Weg kreuzen, als Pessoasche Phantasmagorien.


Wer je Pessoa und vor allem dessen (dem Hilfsbuchhalter Bernardo Soares unterschobenem) "Buch der Unruhe" lesend erlegen ist und danach, pessoasüchtig, Lissabon durchstreift, wird eine ähnliche Erfahrung gemacht haben wie Tabucchi: Die Siebenhügelstadt am Tejo verwandelte sich ihm zur Bühne für lauter Auftritte von Pessoas poetischem Personal. Das Motiv der Mystifikation - der Täuschung - beherrscht alle neun Kapitel der Erzählung Tabucchis, in der Lissabon schließlich als todtraurige Traumstadt - als eine Stadt voller verrückter Wiedergänger - erscheint. Dabei beschreibt Tabucchi die Topographie der Stadt gleichzeitig mit so besessener Detailexaktheit, daß jeder Tourist seine Erzählung sehr wohl als Lissabon-Guide verwenden könnte. Nicht nur auf Straßennamen oder Straßenbahnverbindungen ist hundertprozentig Verlaß, sondern auch auf die vielen gastronomischen und kulinarischen Verweise. Tabucchis Erzählung ist ganz nebenbei nämlich auch ein Hymnus auf die portugiesische Küche mit ihren kräftigen Suppen, fabelhaften Fischgerichten und verführerischen Süßspeisen, und liebenswürdigerweise hat der Autor im Anmerkungsteil einige besonders verwegene portugiesische Kochrezepte plus der dazu passenden Weinsorten gleich mitgeliefert.


Einmal heißt es in Tabucchis Erzählung: "Wahrscheinlich habe ich einen portugiesischen Vorfahren, den ich nicht kenne, ich glaube, Portugal ist meinem genetischen Code eingeschrieben." Daß Tabucchis Erzählung das Resultat einer Verliebtheit ist, erweist sich auch darin, daß der italienische Schriftsteller, um dem Gegenstand seiner Verliebtheit so nahe wie überhaupt nur möglich zu kommen, in die Sprache dieser Stadt und dieses Dichters schlüpfte: Tabucchi hat sein "Lissabonner Requiem" tatsächlich auf portugiesisch geschrieben, und dieser gewagte sprachliche Verwandlungsakt hat Tabucchis Prosa nicht etwa schwerfälliger gemacht, sondern im Gegenteil gelöster (was auch noch in der Übersetzung von Karin Fleischanderl, die kurioserweise nach der italienischen Übersetzung von Sergio Vecchio erstellt wurde, noch zum Ausdruck kommt).


Antonio Tabucchi selbst hat in einer Vorbemerkung zu seiner Erzählung die musikalische Leichtigkeit, die diese auszeichnet, als ästhetisches Programm verkündet: "Würde jemand einwenden, daß dieses Requiem nicht mit der gebührenden Feierlichkeit aufgeführt worden ist, bliebe mir nichts anderes übrig als zuzustimmen. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe es vorgezogen, meine Musik nicht mit einer Orgel zu spielen, einem Instrument, das zu Kathedralen paßt, sondern mit einer Mundharmonika, die man in die Tasche stecken kann, oder mit einer Drehorgel, die man über die Straßen schiebt." Man sollte sich nicht täuschen lassen von dieser Vorbemerkung zu einer Erzählung, in der alles auf Täuschung abgestellt ist: Auch die "billige Musik", die Tabucchi hier propagiert, ist tief melancholisch und also dem Genius loci kongenial.


Ein Teil dieser Melancholie rührt allerdings auch daher, daß Lissabon - und Portugal - gerade im Begriff ist, seine Identität zu verlieren. "Dieses Land wird furchtbar europäisch", erklärt in Tabucchis Erzählung jener mitternächtliche Gast, der die Züge Fernando Pessoas trägt, aber mit der Stimme Antonio Tabucchis spricht: "Zu meinen Lebzeiten, sagte mein Gast, lag Europa in weiter Ferne, es war ein Traum. Und Sie haben ihn oft geträumt? fragte ich. Nein, antwortete er, nicht so oft, mein Freund Mário hingegen schon, er hatte so gewisse Träume, wurde aber schrecklich enttäuscht, ich, wie Sie wissen, ging lieber zum Rossio-Bahnhof und wartete auf die Züge, die aus Paris am Rossio ankamen, es machte mir Spaß, die Reise vom Gesicht der anderen abzulesen."


Indem Antonio Tabucchis Erzählung jenes schläfrige Portugal beschwört, das noch mit dem Rücken zu Europa stand, trägt sie rechtens den Titel "Requiem". Doch verwandelt sich dieses dem Leser in eine Wiederauferstehungsfeier, bei der noch einmal jener portugiesische Traum triumphiert, der künftig den europäischen Tatsachen wird weichen müssen und wohl nur noch in Büchern wird geträumt werden können.


Antonio Tabucchi:


Lissabonner Requiem


Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl; Hanser-Verlag, München 1994; 136 S., 24,- DM


Namen:

Tabucchi, Antonio


Auszug aus: DIE ZEIT Nr.10 03.03.1995 LITERATUR



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