Ein Spaziergang mit Fernando
Pessoa
durch die Metropole am Tejo;
DER DOLMETSCHER LISSABONS
Pischke,
Theo
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Zu Lebzeiten ist von ihm nur ein einziges Buch erschienen. Dennoch war sich der auf Photographien meist melancholisch dreinschauende Dichter seines Nachruhms ziemlich sicher: "Eines Tages wird man vielleicht einsehen, daß ich wie kein anderer meine eingeborene Pflicht als Dolmetscher für einen Teil unseres Jahrhunderts erfüllt habe." Diesen Satz schreibt der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares in seinen Aufzeichnungen, dem "Buch der Unruhe". Soares ist eine Gestalt des Dichters Fernando Pessoa, der heute als der bedeutendste portugiesische Dichter der Moderne gilt. Als er 1935 starb, kannte ihn kaum jemand.
Nach seinem Tode fand man in seinem Zimmer eine große hölzerne Truhe, randvoll mit Manuskripten. Darunter war auch ein Text über seine Geburtsstadt Lissabon, ein liebevoller Stadtführer für Fremde, geschrieben auf englisch, das Pessoa so sicher beherrschte wie seine Muttersprache, denn seine gesamte Schulzeit hatte er im südafrikanischen Durban verbracht. Dort war sein Stiefvater portugiesischer Konsul gewesen. Immer hat Pessoa auch englische Gedichte geschrieben.
Um den ersten Blick auf Lissabon zu werfen, rät Pessoa in seinem Stadtführer, zu einem der vielen Aussichtspunkte auf den Hügeln der portugiesischen Metropole zu gehen. Von dort habe der Fremde "ein wunderschönes Panorama", sehe die "weite, unregelmäßige und vielfarbige Masse der Häuser, die Lissabon ausmachen".
Dem Reisenden, der vom Meer her kommt, biete sich die Stadt dar als "eine wunderbare Traumvision, scharf abgestochen vom lebenden Blau des Himmels, den die Sonne beseelt. Und die Kuppeln, die Monumente, die alte Burg erheben sich über der Masse der Häuser wie ferne Boten dieses herrlichen Ortes." Reisende kommen kaum noch vom Meer her. Doch es gibt einen kleinen Ausgleich: Wer mit dem Zug von Faro nach Lissabon fährt, muß in Barreiro aussteigen und von dort das letzte Stück mit der Fähre zurücklegen. Die Fahrt über den Rio Tejo läßt es erahnen, das schöne Gefühl der Ankunft nach einer langen Schiffsreise.
Pessoa liebte Lissabon. Nachdem er 1905 mit siebzehn Jahren an Bord des deutschen Reichspostdampfers Herzog aus Durban zurückgekehrt war, verließ er die Stadt nie wieder. Zunächst lebte er im Hause seiner Tanten in der Rua Bela Vista a Lapa 17. Lapa ist ein gutbürgerlicher Stadtteil. "Die Rua Bela Vista war früher die Hauptstraße des Viertels", sagt Senhor Manuel, der Besitzer des Kolonialwarengeschäfts "Mimosa da Lapa". Senhor Manuel ist ein rundlicher Mann mit rundlichem Kopf. Hinter seinem rechten Ohr klemmt stets ein Bleistift. In seinem Laden, in dem es alles gibt und wo sich alle treffen, mischt sich der Duft von Feigen und Honigkuchen mit dem Geruch nach Kaffee und frischen Orangen. Bonbons verkauft Senhor Manuel aus großen Gläsern, die Feigen wiegt er je nach Wunsch des Kunden ab und wickelt sie in Packpapier ein. Die Wand hinter dem Ladentisch wird vom Boden bis zur Stuckdecke mit einem dunklen Holzregal voller Portweinflaschen verdeckt. Und anschreiben lassen kann man sowieso. Seit 1923 gehört der Laden Senhor Manuels Familie. "Doch er ist mindestens hundert Jahre alt", versichert er, "mein Onkel hat ihn vom Vorbesitzer übernommen."
Auch Fernando Pessoa mag hier eingekauft haben. Auf seinem Weg vom einen Straßenende zum anderen bekam er täglich den Sinn des Straßennamens "Bela Vista" vor Augen geführt: bei der schönen Aussicht auf die Estrela-Basilika. Pessoa schwärmt von der Fassade des klassizistischen weißen Bauwerks mit seinen zwei Glockentürmen und der großen Kuppel. Im Inneren der Kirche steht beim Hochaltar das aus schwarzem und weißem Marmor gearbeitete Grabmal der Kirchenstifterin Maria I., der 1816 im Wahnsinn verstorbenen Bragança-Königin.
Maria I. ließ in Lissabon auch das Theater Sao Carlos erbauen. Im vierten Stock des Hauses direkt gegenüber (Nummer 4) wurde Pessoa am 13. Juni 1888 geboren. Ein hoch an der Wand angebrachtes Schild erinnert daran. Die einst goldfarbene Schrift ist kaum noch zu entziffern. An der Haustür weist ein halb abgerissenes kleines Schild auf die "Portugiesische Elektrometallurgiegesellschaft" hin, die demnach jetzt im vierten Stock ihren Sitz hat. Pure Täuschung. Die Tür ist verrammelt. Das Haus steht leer.
In seinem schriftstellerischen Werk hat sich Pessoa hinter Namensmasken verborgen. "Ich schuf in mir verschiedene Persönlichkeiten. Jeder meiner Träume verkörpert sich, sobald er geträumt erscheint, in einer anderen Person; dann träumt sie, nicht ich", läßt er den Hilfsbuchhalter Soares im "Buch der Unruhe" notieren. Doch für ihren Erfinder sind diese dichterischen Persönlichkeiten mehr als Namensmasken, es sind "dramatische Geschöpfe". Pessoa versieht sie mit einer eigenen Biographie, mit unterschiedlichem Aussehen, politischen Ansichten, Gefühlen und Horoskopen. Für Alexander Search ließ er sogar Visitenkarten drucken. Die Anschrift: Rua Bela Vista a Lapa 17.
Pessoa ist in Lissabon nahezu zwei Dutzend Male umgezogen. Entweder hat er bei Verwandten oder in möblierten Zimmern gewohnt. Doch sein Lieblingsviertel war die Baixa, Unterstadt und Geschäftszentrum Lissabons. In der Baixa verdiente er seinen Lebensunterhalt. Er arbeitete dort als freier Handelskorrespondent für verschiedene Firmen, übertrug deren Geschäftspost ins Englische und Französische. Und eine Straße der Baixa, die Rua dos Douradores, hat er im "Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares" zu einem Mikrokosmos gemacht. Sie ist für ihn Abbild der Welt, und die Menschen, die dort leben, sind Abbild der Menschheit.
In der Rua dos Douradores findet man heute ein Stück des morbiden Lissabon. Ein Geruch von Sägemehl und Sardinen hängt in der Luft. Da ist ein Schneider, dort ein Schreiner und dann ein Schuster, der seine kleine Werkstatt direkt neben einem offenen Treppenaufgang eingerichtet hat - mit Blick auf die Straße. Im Haus Nummer 83 handelt die Firma Gomes & Gomes mit Tuchen und Stoffen. Es gibt Büros und Restaurants. Vor allem Restaurants. Auch Snackbars und Spelunken. Im "Barros" ißt man Schnecken oder vorzügliche Sardinen. Vom Grill auf der Straße. Im "Parreira do Camelo" trinkt man tinto und branco vom Faß. Im "Pessoa" nicht. Dort essen gutbürgerliche Familien gutbürgerlich zu Mittag. Sonntags dauert das Mahl zwei Stunden und mehr.
Das "Pessoa", das nicht nach dem Poeten benannt ist, gab es schon zu Pessoas Zeiten. Und auch er war dort zu Gast - wenn er es sich leisten konnte. So notierte er am 27. März 1913: "Mit geliehenem Geld aß ich im Restaurant Pessoa zu Mittag. Danach traf ich mich mit Garcia Pulido im Brasileira am Rossio." Das "Brasileira" gibt es schon lange nicht mehr. Nur das "Brasileira" am Chiado existiert noch. Auch dort saß Pessoa oft. Vor allem sonntags, wenn sein Stammcafé "Martinho da Arcada" am Praça do Comércio geschlossen war. Heute erinnert eine Bronzeplastik vor dem "Brasileira" an den Dichter: Pessoa mit Hut, die Beine übereinandergeschlagen, an einem Kaffeehaustisch sitzend.
Die Pessoa-Plastik steht in guter Nachbarschaft zum Denkmal des Poeten Chiado, der dem Viertel seinen Namen gegeben hat. Chiado lebte im 16. Jahrhundert, hieß eigentlich António do Espirito Santo, war ursprünglich Mönch, und nachdem er die Kutte abgelegt hatte, wurde er mit seinen derben Versen zum "beliebtesten Volksdichter seiner Zeit" - so Pessoas Charakterisierung.
Bis zu seinem Denkmal ist das Feuer, das am 25. August 1988 einen Teil des Viertels zerstörte, nicht gekommen. Den Wiederaufbau des Chiado hat Alvaro Siza Vieira konzipiert, einer der bekanntesten Architekten Europas. Mehr als sechs Jahre nach dem Brand steht der größte Teil der Häuser wieder. Doch im Zentrum, dort wo einst das Kaufhaus Grandes Armazens do Chiado war, ragen noch ein paar Ruinen in den Himmel. Die Banco Internacional do Funchal hatte das Gebäude kurz vor dem Brand wegen ausbleibender Kreditrückzahlungen pfänden lassen, nach dem Feuer die Versicherungsgelder kassiert und mit der Lissabonner Stadtverwaltung über die künftige Nutzung des Grundstücks verhandelt. Doch der Besitzer prozessierte gegen die Pfändung, der Architekt kam mit der Planung wegen der unsicheren Besitzverhältnisse nicht voran. Im vergangenen Dezember erst entschieden die Richter: Die Pfändung war nicht Rechtens.
Zwei Straßen weiter, im Museum für Zeitgenössische Kunst, wurden am Tag des Brandes alle Kunstwerke ausgeräumt und an einen sicheren Ort gebracht. Eine Vorsichtsmaßnahme, die sich zum Glück als überflüssig erwies. Das Gebäude wurde von den Flammen verschont. Doch weil die Gelegenheit günstig war, machte man sich an eine grundlegende Renovierung. Jetzt heißt es Chiado-Museum. Ausgestellt ist vor allem portugiesische Malerei seit 1850.
Vom Chiado-Museum sind es nur ein paar Schritte zurück zur Baixa. Pessoa hat während seines ganzen Lebens die Nähe zur pulsierenden, lebhaften Unterstadt gesucht. Dieses Viertel, vom Rossio bis zum Ufer des Tejo, war sein Revier. Das Café "Martinho da Arcada" war eine Art Schreibbüro und Wohnzimmer für ihn. Nahezu täglich saß er dort am späten Nachmittag, diskutierte mit Freunden, las, schrieb Briefe und Gedichte. Doch Kaffee war nicht sein Lieblingsgetränk. Er zog Schärferes vor: Branntwein. "Wenn ein Mann gut schreibt, nur wenn er betrunken ist, so sage ich ihm: Er soll sich betrinken. Und wenn er mir sagt, daß seine Leber darunter leidet, dann antworte ich: Was ist schon Ihre Leber? Ein totes Ding, das nur lebt, solange Sie leben. Doch die Gedichte, die Sie schreiben, leben ohne ,solange`", schreibt Pessoa-Soares im "Buch der Unruhe". Pessoa starb mit 47 Jahren an Leberzirrhose.
Wohnen wollte er immer so nahe wie möglich an der Baixa. Doch der so häufig umziehende Dichter konnte sich die Zimmerpreise dort nicht leisten. Pessoa kam nur bis zum Largo do Carmo auf halbem Wege zwischen dem Vergnügungsviertel Bairro Alto und der Baixa. Dort lebte er von 1908 bis 1912 im Haus Nummer 18, erster Stock, direkt gegenüber der Ruine des Carmo-Klosters und einer Kaserne der Nationalgarde.
In ebendiese Kaserne hatte sich am 25. April 1974 Portugals Diktator Marcello Caetano geflüchtet. Vor dem Gebäude standen Panzerwagen der revolutionären Truppen und dazwischen dichte Menschentrauben. Es fiel kein Schuß. Caetano ergab sich. Die Diktatur war zu Ende. Die Nelkenrevolution hatte gesiegt.
Zuletzt hatte Pessoa im Stadtteil Campo de Ourique gewohnt, in der Rua Coelho da Rocha 16. Das Haus würde er heute bestimmt nicht wiedererkennen. Von oben bis unten renoviert, wurde es 1993 unter dem Namen "Casa Fernando Pessoa" als Museum und Kulturhaus der Öffentlichkeit übergeben. Lesungen und Ausstellungen finden dort statt. Und es gibt eine Bibliothek mit Büchern von und über Pessoa.
Gestorben ist der Dichter im Bairro Alto. Im Krankenhaus Sao Luis dos Franceses, ganz am Ende der Rua Luz Soréano. In der Eingangshalle, über dem Hinweisschild, das Ankunft über die Besuchszeiten gibt, erinnert ein kleines Portrait an ihn. Nur einen Steinwurf vom Sterbeort des Dichters entfernt, an der Ecke zur Travessa dos Inglesinhos, liegt das Café "Leiteria Inglesinhos". Hier trinken die Tanz- und Musikstudentinnen des benachbarten Konservatoriums ihren Kaffee. Aufgeregte, lebhafte Gespräche, helles Lachen klingen durch den Raum. António, der Wirt, bedient sichtlich gern die Mädchen mit den schönen Gesichtern, umrahmt von pechschwarzen Haaren.
Begraben hat man Pessoa auf dem Cemitério dos Prazeres, dem "Friedhof der Vergnügen". 1985 wurde seine Leiche umgebettet in den Kreuzgang des Jerónimos-Klosters. Und auch das gehört zum Nachruhm: Man benennt eine Straße. Die Rua Fernando Pessoa findet sich in einem Wohngebiet nicht weit von der Metrostation "Entre Campos". In Pessoas Straße sind die Häuser alle schnörkellos und dreistöckig, funktionelle Wohngenossenschaftsbauten. Doch auch hier wie überall: Wäsche hängt von den Fenstern herab. Jungen bolzen auf der Wiese. Auch die benachbarten Straßen tragen Dichternamen: den von Mário de Sá-Carneiro, Pessoas Freund, der sich 1916 selbst tötete; und den von Florabela Espanca. Auch sie eine Verkannte, die 1935 ihrem Leben selbst ein Ende setzte. Pessoa hat sie nie kennengelernt. Doch sie waren Geschwister im Geiste.
Fernando Pessoa: "Das Buch der Unruhe" ist auf deutsch erschienen im Ammann Verlag (übersetzt von Georg Rudolf Lindt, Zürich 1985; 44 Mark). Voraussichtlich im Mai wird im Ammann Verlag erscheinen: "Mein Lissabon, Ein Lese- und Bilderbuch", 18,80 DM.
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Auszug
aus: Die ZEIT Nr.12 17.03.1995
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