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Die Kleine Eule
Vor
sehr langer Zeit, als Tiere und Menschen noch eine gemeinsame Sprache
hatten, wohnte im Wald
hinter den Traumbergen eine kleine Eule. Sie war die Jüngste von
sechs Geschwistern und hatte als Letzte die Höhle im alten Baum
verlassen.
Die Euleneltern brachten ihr bei, wie man fliegt, Mäuse
fängt und Sonnenbäder nimmt.
Dann sagten sie: "Nur Mut, kleine Eule! Schau dir die Welt an!"
"Bin ich dazu nicht noch zu
klein?", fragte die kleine Eule.
Die Euleneltern ließen
ihre Schnäbel knacken und schnauften dann nachsichtig:
"Die
Große-Eule-die-alles-erschaffen-hat behütet dich auf
deiner Reise! Und die Regeln
kennst du:
Töte dein Futter, so schnell, dass es keinen
Schmerz fühlt, dann schmeckt es auch besser.
Freu dich an
jedem Licht, sei es auch noch so schwach. Und was das Fliegen
weiterer Strecken betrifft ... nun:
Fliegen übt man durch
Fliegen, mehr ist dazu nicht zu sagen." Die
kleine Eule ruckte den Kopf nach allen Seiten,
um ihre Eltern und den Heimatbaum
noch einmal genau anzusehen. Sie fauchte und kreischte und schnarchte
zum Abschied. Dann breitete sie die Schwingen aus und flog davon.
Der
Wald hinter den Traumbergen war groß und voller Tiere. Als die
Eule eine kleine Weile geflogen war,fand sie auf einer Lichtung einen
felsigen Hügel. Sie
setzte sich auf die moosbewachsene Spitze, blinzelte in die tief
stehende Sonne und freute sich.Unter ihr auf einem Stein, der von der
Sonne noch warm war, lag eine Wildkatze. Vier
schwarze Streifen liefen ihr
von der
Nase die Stirne hoch. Ihr
buschiger Ringelschwanz zuckte
leise, als sie den Kopf hob
und
ihre Augen auf die kleine Eule richtete. "Eine
Eule! Du kommst mir gerade recht. Antworte mir:
Wie kann es die Große-Wildkatze-die-alles-erschaffen-hat
zulassen, dass es Katzen gibt, die sich zähmen lassen?"
"Wie wie?", kläffte die kleine Eule ganz überrascht.
"Gestern Abend bin ich so weit
gelaufen wie noch nie bis an den Bach, der von den
Traumbergen herunterbraust. Dort sah ich
einen Menschenbau aus Holz und Steinen, und rundherum roch es gut
nach fettem Gackervieh. Aber ich war satt und
wollte nur aus der Ferne ein wenig schauen. Vor dem Bau saß
ein Mensch, der hielt eine Katze im Schoß und
streichelte
sie. Sie biss und kratzte nicht, sondern schnurrte. Mir lief es
eiskalt über das Fell.
Sich anrühren lassen
krrr! Wie ist das möglich?"
Die
kleine Eule duckte sich, ruckte mit dem Kopf und zirpte: "Wie
soll ich das wissen?"
Die Wildkatze richtete sich auf, ihr
Ringelschwanz schwoll an und sträubte sich. Aus ihren
Augen
blitzte es grün und gelb.
"Das
fragst du?", schnaubte sie. "Du bist doch eine Eule! Eulen
sind weise und wissen die Antworten
auf die Fragen der Welt!" - "Das habe ich nicht gewusst",
sagte die kleine Eule erschrocken.
"Wozu gibt es dich dann?",
fauchte die Wildkatze. "Schäm dich und schau, dass
du weiterkommst!"
Die kleine Eule war so verdutzt, dass sie
die Flügel breitete und davonstrich.
Sie fand einen Baum mit
hohem Stamm und breiter Krone, die
in der untergehenden Sonne leuchtete.
Die kleine Eule setzte sich
auf den untersten Ast und versuchte nachzudenken.
Da rauschte es
vom Waldboden herauf mit schweren Flügeln,
es prasselte und flatterte laut, und schon
war
neben der kleinen Eule ein Pfau gelandet. Der Ast schwankte unter
seinem Gewicht. "Wieder
einmal geschafft!", keckerte der Pfau. "Jeden Abend vor dem
Einschlafen dieselbe Anstrengung! Warum kann ich nicht ebenso gut
fliegen wie laufen? He, wer hockt denn
da? Kleines, hör, das ist MEIN Schlafbaum!"
"Entschuldigung!",
röchelte die kleine Eule.
Der
Pfau schüttelte sein prachtvolles Gefieder und sagte: "Oh,
eine Eule, der Stimme nach zu
schließen. Das trifft sich gut." Er ordnete seinen
Schleppschwanz und ließ ihn dann senkrecht zur Erde
hinunterhängen.
Dann
setzte er fort: "Ich habe da eine Frage, die mir keine Ruhe
lässt:
Warum hat der Große-Pfau-der-alles-erschaffen-hat
so wenig
Schlafbäume für unsereins wachsen lassen?"
"Äh
äh wie?", schnaufte die kleine Eule.
"Na,
du siehst doch, was für einen langen Schwanz ich habe",
sagte der Pfau. "Ich kann
Radschlagen damit. Wenn ich aber in
Sicherheit schlafen will, macht er mir
Scherereien. Nur sehr hohe
Bäume mit hoch oben ansetzenden waagrechten Ästen
sind
für mich geeignet. Davon gibt es in diesem Wald zu wenige!"
"Du
hast doch diesen hier?", wisperte die Eule.
"Ich hätte
gern drei oder vier zur Auswahl", rief der Pfau. "Antworte
mir also:
Wieso ist dafür nicht vorgesorgt worden?!"
"Das
weiß ich nicht", antwortete die kleine Eule.
Der Pfau
beugte seinen Kopf, sodass seine blaue Federnkrone beinahe
die
Brustfedern der kleinen Eule berührte.
"Das weißt
du nicht? Wieso weißt du das nicht?
Eulen wissen doch die
Antworten auf die Fragen der Welt!"
"Ich habe auch nicht
gewusst, dass das eine Frage der Welt ist", gestand die kleine
Eule.
"Kleiner Dummkopf, dann bist du gar keine richtige
Eule!", gackerte der Pfau.
"Schäm dich und schau,
dass du weiterfliegst."
Erschrocken flog die kleine Eule
davon.
Sie
fand einen Felsen mit einer kleinen Höhle und setzte sich in
eine Nische, um zu
rasten und nachzudenken. "Warum soll ich
mich schämen?", sagte sie zu sich selbst.
"Warum
soll ich die Antworten auf die Fragen der Welt wissen?
Wie kann
die Wildkatze von der Großen-Wildkatze-die-alles-erschaffen-hat
sprechen und der
Pfau vom Großen-Pfau-der-alles-erschaffen-hat, wenn es doch die
Große-Eule war, die alles erschaffen hat?" Die Sonne war
hinter den Traumbergen versunken.
Am westlichen Himmel funkelte der Abendstern, und langsam stieg der
Mond über die Baumwipfel. Seine Strahlen erreichten auch die
Höhle im Felsen, und die kleine Eule freute sich an dem
silbernen Licht.
"Zeit zum Ausfliegen!", piepste eine
Stimme hinter ihr. "Was für eine milde Nacht! Der
Großen-Fledermaus-die-alles-erschaffen-hat sei Dank!"
Die
kleine Eule ruckte den Kopf herum und entdeckte eine Fledermaus,
die
kopfunter an der Wand hing. Mit den
Zehen ihrer Hinterfüße und den
beiden Daumenkrallen
hatte sie sich fest in den Felsen gekrallt. Nun spreizte sie ein
wenig die Flughaut,
um sie einzufetten. Mit der Zunge fing sie die
ölige Flüssigkeit auf, die aus einer Öffnung über
den Nasenlöchern
sickerte, und verteilte sie hurtig über
die ganze Haut. "Uiuiui, das stinkt!", entfuhr es der
kleinen Eule.
"Es
riecht stark!", bestätigte die Fledermaus. "Darum bin
ich kein Futter für dich, meine
Liebe. Du bist doch eine Eule, oder?" - "Ja, aber nur eine
kleine und vielleicht gar keine richtige ...!" "Ts-ts-ts,
Eule ist Eule, und Eulen wissen Antworten auf die Fragen der Welt",
sagte die Fledermaus. "Ich hätte da eine Frage, meine
Liebe."
Die
Fledermaus hangelte sich an den Rand der Nische und hing nun vor dem
Gesicht der kleinen Eule.
"Schau, wie erfinderisch ich gebaut bin", piepste sie,
"prima ausgerüstet für
alles! Ich finde auch in der finstersten Nacht meine Futtermücken.
Ich schreie sie an, und wenn das Echo zurückkommt, flattere ich
hin und schnappe zu. Nur eines
betrübt mich: Ich kann jedes Jahr nur ein einziges Kind auf die
Welt bringen. Falter und Motten
legen viele, viele Eier, hinter einer Igelmutter trippelt eine
lange Reihe Igelchen einher, und
Füchse haben wenigstens drei Junge. Warum vergönnt mir die
Große-Fledermaus-die-alles-erschaffen-hat nur ein einziges
Kind?" - "Das weiß ich nicht", antwortete die
kleine Eule. Die Fledermaus
schaukelte erstaunt vor und zurück.
"Das weißt du nicht? Wie soll ich
das glauben?" "Ich weiß
es nicht", wiederholte die kleine Eule und stöhnte ganz
schaurig vor Kummer. "Wer soll es denn wissen, wenn du es nicht
weißt?", fragte die Fledermaus traurig.
"Vielleicht bemühst du dich einfach zu wenig beim
Nachdenken, stimmts? Kommst du wieder,
wenn dir die Antwort eingefallen ist?"
Die kleine Eule ruckte eifrig den Kopf. "Gut",
piepste die Fledermaus, breitete ihre Flughaut aus und flatterte in
die Nacht hinaus. Ihre schnellen, hohen Schreie ließen die Luft
schwingen. Nach ihr kamen noch viele andere Fledermäuse aus der
Tiefe der Höhle. Die kleine Eule sah ihnen nach, wie sie im
Zickzackflug durch das Mondlicht
schwankten.
Trotz
ihres Kummers bemerkte die kleine Eule, wie hungrig sie geworden war.
Sie
verbrachte die Nacht mit Jagen und erlegte ihre Futtermäuse
schnell wie der Blitz.
Als sie so satt war, dass sie keinen Bissen
mehr hinunterwürgen konnte, sagte sie zu einer Maus,
die sie
unter der Erde trippeln hörte: "Du Maus dort unten, gib
Antwort: Welches mächtige Wesen hat dich
und mich und alles
erschaffen?" Nach einer Weile piepste es aus einem Erdloch: "Die
Große-Maus, wer sonst?
Das weißt
du genau, du alte Alleswisserin! Warum fragst du so
hinterhältig? Willst du mich aus meinem Loch locken?
Deinesgleichen ist schuld daran, wenn immer wieder einige von uns
fehlen. Wenn ich nur wüsste,
warum ihr
Eulen nicht als Grasfresser erschaffen worden seid!" "Oder
als Körnerfresser ", fauchte die kleine Eule. "Nein,
die Körner gehören uns", piepste es schon viel leiser,
und dann blieb es still.
Die kleine Eule flog weiter und suchte sich einen hohen Wipfel zur
Rast. "Hu-hu-hu, ich bin keine Alleswisserin", heulte sie.
"Ich bin eine Nichtswisserin, das
weiß ich ganz genau." Tief unter ihr glitt ein grauer
Schatten mit einem dicken Ringelschwanz vorbei. "Nanu!",
knurrte eine Stimme. "Ein ganz kleines Wissen, dünn wie ein
Barthaar, ist bereits vorhanden." Die kleine Eule ruckte den
Kopf nach allen Seiten. "Ich werde lernen", fauchte sie und
schlief ein.
Als
das Morgenrot durch die Blätter leuchtete, war die kleine Eule
schon wieder munter und freute sich an dem rosigen Schein. "Was
werde ich heute alles finden und erfahren?", fragte sie.
Sie breitete ihre Flügel aus und flog lautlos und schnell über
den morgendlichen Wald
in Richtung der Traumberge.
Sie sah
den Bach unter sich schäumen und glitzern, flog tiefer
und bemerkte den Menschenbau,
von dem
die Wildkatze gesprochen hatte. Ringsum
war alles ruhig,
bis auf ein paar
Hühner, die nach Würmern scharrten.
Weiter unten am Bach aber sang eine Menschenstimme. Die kleine Eule
flog dem Lied nach und fand eine Frau, die Wasser schöpfte.
Die
Eule setzte sich in einen Beerenstrauch und röchelte:
"Du
hast eine hübsche Stimme viel hübscher als meine."
Die Frau blickte auf und lachte.
Dann sprach sie zur kleinen Eule: "Stell dir vor,
alle Wesen hätten dieselben
Eigenschaften. Wäre das nicht langweilig auf der Welt?
Du zum
Beispiel siehst und hörst
besser als ich, vom Fliegen einmal ganz abgesehen." "Und
warum singst du?",
fragte die kleine Eule. "Willst du
die Grenzen deiner Futterlandschaft
verteidigen wie eine Amsel?"
"Ich singe, damit mir die
Arbeit leichter von der Hand geht",
sagte die Frau. "Und
manchmal singe ich zur Ehre der
Großen-Mutter-die-alles-erschaffen-hat."
"Wo
wohnt die?", fragte die kleine Eule. "Überall",
sagte die Frau.
"Menschenaugen können
sie nicht erblicken. Sonne, Mond und Sterne sind nur der Schmuck auf
ihrem Kleid" "Und wenn ich dir nun erzähle",
wisperte die Eule, "die Fische in diesem Bach wüssten von
einem Großen-Fisch-der-alles-erschaffen-hat?" - "Es
würde die Große-Mutter bestimmt nicht
kränken",
sagte die Frau. "Sie hat ein Herz für alle ihre Geschöpfe."
Die kleine Eule ruckte den Kopf hin und her und dachte nach."Freut
sie sich, wenn du ihr zu Ehren singst?" "Ich hoffe es",
sagte die Frau. "Ich bitte sie auch um viele Dinge.
Dass
das Dach meiner Hütte viele Jahre lang hält, dass meine
Hühner viele Küken ausbrüten
und dass wir gesund
bleiben, mein Kind und ich ..." "Du machst dir Sorgen um
Dinge, die morgen sein werden?"
"Das macht sich wohl jeder", sagte die Frau. "Weißt
du, ob es heute noch regnen wird? Ich will doch meine Wäsche
trocken kriegen."
"Die Luft riecht nicht nach Regen",
sagte die kleine Eule, kreischte zum Abschied und flog bachaufwärts
davon.
Die
Sonne schien den ganzen Tag, und die kleine Eule nahm ausgiebige
Sonnenbäder.
Dabei konnte sie gut nachdenken. Am Abend flog
sie bis zu den Abhängen der Traumberge.
Als es Nacht geworden
war, sah sie zwischen den Bäumen etwas leuchten wie einen
goldenen Stern.
Sie flog dem Schimmer nach und entdeckte eine
kleine Hütte aus Holz.
Der Lichtschein kam aus einer Öffnung
in der Wand und lockte die Nachtfalter an.
Auch die kleine Eule
fühlte sich vom Licht wie verzaubert. Sie wagte sich näher
und näher,
bis sie auf einem schmalen Steg vor der Öffnung
saß. So gut gefiel ihr der warme Schein,
dass sie das
Eulen-Liebeslied anstimmte. Sie schnarchte, heulte und kreischte.
"Eine Eule auf meinem Fensterbrett", sagte eine tiefe
Stimme. "Sei willkommen!" Die kleine Eule blinzelte, um
außerhalb des Lichtes den Menschen zu sehen. Es war ein alter
Mann.
Die
kleine Eule fragte den alten Mann: "Was tust du da?"
"Ich
lese", sagte er und scheuchte die Falter sanft von einem weißen
Blatt.
"Der Tag war mir zu kurz, also lese ich im
Schein meiner Lampe weiter. Es ist ein
Buch über
den Großen-Vater-der-alles-erschaffen-hat."
"Wo wohnt der?", fragte die kleine Eule.
"Überall", antwortete der alte Mann. "Im
himmlischen Reich, das meine Augen noch nicht sehen
können, und in den Herzen der Menschen."
"Bittest du ihn für morgen?", fragte die kleine Eule.
"Ja, doch", sagte der alte Mann. "Aber mehr noch
bitte ich ihn für die vergangene
Zeit.
Es war so viel in meinem Leben, das vor seinen Augen nicht
bestehen kann.
Das beschäftigt mich sehr." "Wenn
ich dir nun erzähle", wisperte die kleine Eule,
"die
Nachtfalter wüssten von einem
Großen-Nachtfalter-der-alles-erschaffen-hat ..."
Der
alte Mann lächelte mitleidig. "Wie sollten sie sich den
Großen-Vater auch anders vorstellen?"
"Vielleicht
als Große-Mutter wie die Frau unten am Bach?"
Der alte
Mann runzelte die Stirn.
"Der
habe ich schon viel vom Großen-Vater erzählt, allerdings
bis jetzt vergeblich, wie mir deine
Bemerkung verrät. Ich
hoffe aber, dass sie eines Tages das Richtige erkennen wird."
"Kränkt
es den Großen-Vater, wenn ihn diese Frau Große-Mutter
nennt?", fragte die kleine Eule.
Der alte Mann dachte lange
nach. "Was für eine seltsame Frage ...
Ich glaube nicht. Der Große-Vater ist gütig.
Ich
fürchte eher, mich kränkt es ein bisschen, seinen treuen
Diener ..."
"Lass dir davon das Herz nicht beschweren",
sagte die Eule, zischte zum Abschied und
strich davon.
Am
nächsten Morgen flog die kleine Eule an den Bach zurück.
Diesmal fand sie nicht die Frau,
dafür aber ein Kind. Es saß
am Ufer, eine Katze im Schoß, ließ
die Beine ins
Wasser baumeln und sah den Fischen zu.
Die Sonne schien auf Kind
und Katze,
Wasser, Steine und Gras. Lautlos ließ sich die
kleine Eule auf einem Baumstumpf nieder.
Ihre scharfen Augen
konnten alles gut auch von weitem sehen: Wie das Kind die Katze
streichelte.
Wie die Katze das Streicheln genoss, sodass sie sogar
die Fische vergaß. Wie die Wellen glitzerten.
Die Eule
freute sich an allem.
Ob
das Kind wohl auch einen eigenen Namen wusste für das
Wunderbare,
das alles geschaffen hatte und die Sonne über
alles scheinen ließ?
Vielleicht wusste das Kind keinen Namen dafür, aber es saß
mitten in seiner Gegenwart, das fühlte die kleine Eule
ganz deutlich.
Und das Morgen und Übermorgen waren nicht da
und nicht wichtig.
Und das Gestern und Vorgestern waren weit weg
irgendwo in der Vergangenheit und hatten kein Gewicht.
Die kleine
Eule ruckte ihren Kopf nach allen Seiten und erinnerte
sich an alle Namen, die dem Wunderbaren gegeben
worden waren. "Du Große-Eule-die-alles-erschaffen-hat,
Große-Wildkatze, Großer-Pfau,
Große-Fledermaus, Große-Maus, Große-Mutter,
Großer-Vater, man könnte dich auch
Großes-Geheimnis-das-immer-jetzt-ist nennen", zischte die
kleine Eule. Die Katze tat ein Auge auf und blinzelte zur Eule
hinüber. "Warum nicht", miaute sie faul.
Nach
Sonnenuntergang flog die kleine Eule in den Wald zurück. Sie sah
sich nach dem Mauseloch um,
fand es und rief hinein: "Hu-hu-hu!
Alles Lebendige lebt von Lebendigem!
Auch eure Körner haben
Lebenskraft!" Als sie weiterflog, begegnete ihr die Fledermaus.
"Wie
gut du fliegst", sagte die kleine Eule. "Wenn du mehr als
ein Kind im Leib tragen müsstest,
wärest du wohl zu
schwer für deine Flughaut." "Mag sein", stimmte
die Fledermaus zu.
Die kleine Eule strich über den Schlafbaum
des Pfaus. "Armer eitler Kerl", dachte sie.
"Er
gehört zum Gackervieh genauso wie die Hühner, und doch will
er mehr als einen Schlafbaum für sich."
Sie flog weiter und sah die Wildkatze auf einem breiten Ast auf Lauer
liegen. Ihre Augen glühten auf, als sie die kleine Eule
erblickte. "Na, schon weise geworden?", fauchte sie.
"Nicht sehr, denn ich bin klein und lerne noch",
zischte die kleine Eule vergnügt.
"Übrigens habe
auch ich eine Katze gesehen, die sich streicheln ließ.
Nicht
einmal die Fische im Bach konnten sie aus dem Schoß des Kindes
locken."
"Unerhört", schnaubte die Wildkatze.
"Wenn alle Geschöpfe gleich wären und gleich
fühlten, wäre das nicht langweilig?", fragte die
kleine Eule.
"Ist es nicht gut, dass das Große-Geheimnis,
das du Große-Wildkatze nennst, viele Möglichkeiten
zulässt?"
Die Wildkatze schwieg, und die kleine Eule
flog weiter. Schließlich besuchte sie auch ihre Eltern im
Heimatbaum.
Die Euleneltern röchelten zum Willkomm:
"Hat dich die Große-Eule-die-alles-erschaffen-hat viel
erfahren lassen?"
"Hat
sie", antwortete die kleine Eule friedlich.
"Und von nun
an werde ich euch und allen Wesen davon erzählen."
"Tu
das, mein Kind", schnaubte die Eulenmutter.
Und der
Eulenvater sagte: "Nur bei den Menschen wird es dir schwer
werden. Sie glauben einem so wenig."
Die kleine Eule
ruckte mit dem Kopf.
"Ich fliege so lange, bis ich einen
finde, der mir glaubt", kreischte sie.
Ende
Ein
kleines Geschenk mit herzlichen Grüßen aus
Osttirol/Österreich.
Die
Geschichte stammt von einer bekannten österreichischen
Autorin,
Frau
Lene Mayer - Skumanz, die Bilder vom
italienischen Künstler Salvatore
Sciascia.
Wir
freuen uns sehr über Briefe an die Kinder des Osttiroler SOS -
Kinderdorfes.
e-mail:
infonet@osttirol.com
Verlag
Tyrolia (copyright) tyrolia@tyrolia-verlagsanstalt.co.at
Elisabeth Ziegler-Duregger (Konzept)
http://www.osttirol.com/infonet
Jürgen Gangl (Technischer Support)
jgangl@osttirol.com
Die
Deutsche Bibliothek CIP Einheitsaufnahme
Die kleine Eule /
Lene Mayer-Skumanz. Ill. von Salvatore Sciascia. -
Innsbruck ;
Wien : Tyrolia-Verl., 1998
ISBN
3-7022-2139-5
Die Geschichte in Buchform ist in deutscher Sprache im Buchhandel
erhältlich.
Sie können Sie auch hier bestellen.