Friedrich-Schiller-Universität Jena - Glauben alle an denselben Gott?
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Printversion erstellt: 20.10.2008 - 10:28 Uhr

Glauben alle an denselben Gott?

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Glauben alle an denselben Gott? - Grundsätzliches zum interreligiösen Dialog

von Prof. Dr. Udo Tworuschka

 

A. Methodische Vorbemerkungen

Die Religionen der Welt sind in Bewegung geraten. Sie begegnen, sie durchdringen einander. Sie grenzen sich auch voneinander ab und schärfen ihre Profile. Seit den denkwürdigen Tagen des ersten "Weltparlaments der Religionen" 1893 in Chicago haben viele Religionen in einer für sie fremden Umwelt Fuß gefasst. Der Hinduismus breitete sich im Westen aus, zuerst in den USA, später in Europa. Der Buddhismus hat sich bei uns zur "Trendreligion" entwickelt. Und der Islam schickt sich an, zur zahlenmäßig größten Religion im alten Europa zu werden. In dieser Situation blicken viele auf die Religionswissenschaft, erwarten von ihr eine Antwort auf die Frage "Glauben alle an denselben Gott?"

I. Entdeckungszusammenhänge

Einige Vorbemerkungen sind notwendig, um Missverständnisse und allzu große Erwartungen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Eine Religionswissenschaft, die sich ihrer Grenzen bewusst ist, kann die Frage nicht beantworten, ob es einen oder mehrere Götter, ob es ein Göttliches, ein Heiliges gibt, oder eventuell auch nicht. Als empirische Disziplin beschäftigt sich die Religionswissenschaft nicht mit der Existenz von Gott/ Göttern/ dem Heiligen, nicht mit Gottesbeweisen oder Gottesbestreitungen, nicht mit Offenbarung. Wohl aber mit Menschen aller Zeiten, Räume und Religionen, die in Bildern, Texten, Musik, in Riten und Gesprächen Auskünfte über die von ihnen für wirklich gehaltenen Götter, höheren Wesen usw. geben. Wenn ich als Religionswissenschaftler trotzdem die Frage aufwerfe, ob alle an denselben Gott glauben, bin ich eine Erklärung schuldig. Die Frage entspringt einem bestimmten Entdeckungszusammenhang, der - erstens - durch die Einbindung meines Lehrstuhls in eine Theologische Fakultät gegeben ist. Ich könnte das Modewort Kontextualität bemühen: nicht in seiner ursprünglich texthermeneutischen Bedeutung, sondern alltagssprachlich im Sinne von Umfeld, Umgebung, als Ausdruck für "das Gefüge von Bedingungen, in denen etwas geschieht, getan und gesagt wird".1 Kollegen und Kommilitonen lehren bzw. lernen hier über Gott. Sie glauben an Gott, halten Gottesdienste und Andachten. In Gestalt meiner Person eröffnet sich ihnen die weite Welt der lebenden Religionen. Durch religionskundliche Informationen trägt mein Fach zur Plausibilitätskrise der "eigenen" Religion bei, zugleich auch zu ihrer Profilierung. Religionswissenschaftler sind nicht standortunabhängig. Sie können evangelischer Christ und im Presbyterium ihrer Kirchengemeinde tätig sein, wie ich. Doch verbindet sich mit religionswissenschaftlicher Arbeit kein direktes religiöses Interesse.2 Im Kontext von Theologie-Treibenden ergibt sich die Frage nach dem einen Gott geradezu zwangsläufig. Sie wird - zweitens - vom gesamtgesellschaftlichen Kontext her aufgeworfen. Ich komme gleich darauf zurück. Drittens ergibt sich die Frage aus dem Objektbereich der Religionen und ihrer Theologien selber. Religionen, die bemerkt haben, dass sie nicht als einzige auf der Welt existieren, sind herausgefordert, ihr Verhältnis zu den anderen Religionen zu reflektieren. Es sei denn, sie sind "vollkommen in sich geschlossene Sozialgefüge", "die weitestgehend ohne Kontakte nach außen"3 auskommen. Man mag hier an ethnische Religionen denken, beheimatet in abgelegenen Bergregionen. Doch wir müssen gar nicht in ferne Gegenden aufbrechen. Bestimmte religiöse Milieus4 - islamische, katholische, evangelische - haben abschottenden, gegen Fremdes schützenden Charakter.

Die Fragestellung dieser Vorlesung muss sich den Vorwurf gefallen lassen, infantilen Sehnsüchten nach Einheit und Geborgenheit verfallen oder dem Sog eines fundamentalistischen New-Age-Monismus erlegen zu sein. Ist der Postmoderne die Sehnsucht nach Einheit nicht endgültig verlorengegangen? Tritt nicht Vieles und Vielerlei an die Stelle von Einheit? William James, einer der Väter des philosophischen Pragmatismus und der modernen empirischen Psychologie, vertrat im Nachwort seines bald hundertjährigen Klassikers "Die Vielfalt religiöser Erfahrung" die postmoderne These, dass der Polytheismus "die wahre Religion der gewöhnlichen Leute war und ist"5. "Ich denke in der Tat", so resümiert James, "dass eine zukünftige Religionsphilosophie die pluralistische Hypothese ernsthafter in Betracht ziehen muss, als sie bisher bereit war."6 In der aktuellen europäischen und US-amerikanischen Religionsgeschichte ist ein Trend zum Polytheismus auszumachen. Hier nur einige Stichworte: feministische Spiritualität, Göttinnen-Bewegung, Hexenkult.7 Die Revitalisierung archaischer Religionen eigener wie fremder Vergangenheiten hat polytheistische Züge. Die gegenwärtige Populärkultur, insbesondere im Fantasy-Bereich, lässt Polytheismus zur erfahrbaren Wirklichkeit werden. Ihm wird philosophische Wertschätzung zuteil. In seinem Aufsatz "Lob des Polytheismus" tritt Odo Marquard für eine Wiederbelebung der Mythen ein, die im Polytheismus wurzeln.8 Die im April 1999 vom Nachrichtenmagazin Focus veröffentlichte Studie "Woran die Deutschen glauben"9 stellt u.a. fest: Jeder fünfte Gläubige schließt die Existenz mehrerer Götter nicht aus. Dennoch: Einheit ist mein Thema, nicht Vielheit.

II. Unterschiedliche Sprachspiele

Die Ein-Gott-Aussage begegnet gegenwärtig in fünf verschiedenen Sprachspielen, die jeweils gründlicher empirischer Auslotungen bedürfen:

  1. bei den "Gebildeten unter den Verächtern von Religion",

  2. im Jugendsynkretismus10

  3. bei "Gottgläubigen"11,

  4. in esoterischen New-Age-Kreisen,

  5. bei interreligiös Engagierten.

1. Die "Gebildeten unter ihren Verächtern"

Viele aufgeklärte Zeitgenossen halten Religion und Religionen für etwas Sozialschädliches, Aggressionen und Unfrieden Beförderndes. Differenzierungen sind ihnen lästig und überflüssig. Diese "Gebildeten unter ihren Verächtern" unterstellen gern, es gehe allen Religionen letztlich doch um dasselbe12. Um wieviel friedlicher ginge es auf der Welt zu, wenn die Religionen, die doch an denselben Gott glauben, nicht so ein fürchterliches Gezeter um ihre vermeintlich absoluten Wahrheiten veranstalteten.

2. Jugendsynkretismus

Neuere Jugendstudien unterstreichen die relativierende Neigung westdeutscher Jugendlicher, "gleichsam hinter den verschiedenen Religionen ganz selbstverständlich denselben Gott zu sehen."13 "Die einen sagen Buddha, die anderen sagen Manitu, die dritten sagen Gott und die vierten Trallala" - so ein Jugendlicher zu einem Interviewer.14 Der Religionspädagoge Friedrich Schweitzer hat den Synkretismus heutiger Jugendlicher analysiert. Die Ein-Gott-Rede beobachtet er in erster Linie bei Vertretern des "konventionellen Synkretismus". Dabei handelt es sich um einen "persönlich nicht reflektierten Synkretismus" inner- wie außerhalb der Kirche, dem eine religionsverbindende und -vermischende Einstellung zugrunde liegt und welche "die Gegensätze zwischen den Religionen nicht zur Kenntnis zu nehmen scheint"15. Eine Offenheit für andere Religionen, gepaart mit einer relativierenden Haltung, prägt auch den "individuell-traditionskritischen Synkretismus", der - die religiösen Traditionen dekonstruierend - im jungen Erwachsenenalter auftritt.16

3. "Gottgläubige"

Der wohl auf die Bewegung der Freireligiösen17 zurückgehende Begriff "Gottgläubige" wird - seltsamerweise ohne Kommentierung - von Klaus-Peter Jörns zum Terminus erhoben. Der Berliner Praktische Theologe hat in einer vielbeachteten empirischen Untersuchung den tatsächlichen Glauben heutiger Menschen untersucht. Gottgläubige sind "durch den Glauben an einen persönlichen Gott als Gegenüber" charakterisiert - im Unterschied zu den "Transzendenzgläubigen", die "an transzendente Wesen oder Mächte, aber nicht ausdrücklich an einen persönlichen Gott"18 glauben. "Es gibt nur einen ‘Gott’, auch wenn ihn die Religionen unterschiedlich verehren"19 - diese Aussage legte Jörns seinen Befragten vor. Sein theologisches Fazit: "Der von der eigenen Religionsgemeinschaft und der von den anderen geglaubte Gott wird als ein-und-derselbe angesehen: die Religionen sind kulturbedingt und als Verehrungsformen des Einen Gottes sekundär."20 54% der "Gottgläubigen" stimmen dieser Ansicht zu. Bei den Transzendenzgläubigen sind es 24 %, bei den "Unentschiedenen" 22 %, bei den Atheisten nur 4%. Sie fühlten sich vermutlich nicht angesprochen.

4. New-Age-Kreise

In seiner fulminanten New-Age-Darstellung hat der niederländische Theologe Wouter J. Hanegraaff das Gottesbild der New-Age-Religion einer kritischen Analyse unterzogen. In esoterischen Kreisen ist die Vorstellung von dem einen Göttlichen verbreitet, das hinter Göttinnen und Göttern steht. In neopaganer Diktion heißt es: "Wir verehren die Personifizierung des männlichen und weiblichen Prinzips, des Gottes und der Göttin. Dabei erkennen wir aber, dass alle Götter verschiedene Aspekte des einen Gottes und alle Göttinnnen verschiedene Aspekte der einen Göttin sind. Und diese beiden sind in dem einen göttlichen Wesen versöhnt."21

5. Interreligiös Engagierte

Das Ein-Gott-Glaube-Konzept hat schließlich seinen "Sitz im Leben" derer, die sich im interreligiösen Dialog engagieren. Im christlich-jüdischen, christlich-islamischen Begegnungsbereich wäre über zahlreiche Beispiele gemeinsamer Gottesdienste zu berichten. Oft sind Brücken gebaut worden, die von bloßer "Konvivenz" zu gemeinsamer Anbetung führen. "Gott in vielen Namen feiern" - lautet der programmatische Titel eines Praxisbuches für "interreligiöse Schulfeiern mit christlichen und islamischen Schülerinnen und Schülern"22. Vorsichtiger argumentiert die von der Islam-Kommission der Evang.-Luth. Kirche in Bayern erarbeitete Handreichung "Multireligiöses Beten".23

B. "Glauben alle an denselben Gott?" - Eine Frage, vier Fragerichtungen

"Alle glauben an denselben Gott" - dieser universelle Satz bzw. diese Theorie ist keine religionswissenschaftliche Aussage. Sie stammt aus den genannten Sprachspielen und wird dem staunenden Religionswissenschaftler präsentiert. Die Aussage entzieht sich durch ihre nicht eindeutige Begrifflichkeit einer Überprüfung. Wer sind "alle", was bedeutet "glauben", wer ist mit "demselben" gemeint und schließlich: wer oder was ist "Gott"? Im Teil B dieser Vorlesung überprüfe ich die einzelnen Satzglieder auf der empirischen Grundlage der allgemeinen Religionsgeschichte. Unsere Frage fächert sich in mehrere Varianten auf, je nachdem, welches Wort betont wird: I. Glauben alle an denselben Gott? II. Glauben alle an denselben Gott? III. Glauben alle an einen Gott? IV. Glauben alle an denselben Gott?

I. Glauben alle an denselben Gott?

1. Verschiedene Bedeutungen des Wortes "glauben"

Die Worte Glaube bzw. glauben sind Bestandteil profaner Alltagssprache, kommen in quasi-religiöser, religiöser, theologischer, schließlich in religionswissenschaftlicher Sprache vor.24 In der theologischen Terminologie ist Glaube(n) ein normativer Begriff. Wie Sünde, Schuld, Gnade gehört Glaube(n) zum Grundvokabular, "das die Kontinuität der theologischen Sprache in der Geschichte christlicher Theologie gewährleistet."25 Die Sätze "Ich glaube an Jesus Christus" oder "Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat" nehmen den alltagssprachlichen Wortgebrauch nicht einfach in Anspruch, "auch nicht als Worthülse, die mit einem neuen Inhalt gefüllt wird. Hier findet der Übergang in ein anderes Sprachspiel statt. Das Wort ‘Glaube’ wird nicht mehr mit ‘Meinung’ assoziiert und nicht mehr der ‘Erkenntnis’ entgegengesetzt."26 Der normative Begriff Glaube bildet die Grundachse des Gott-Mensch-Verhältnisses im Christentum, insbesondere in seiner protestantischen Prägung. Ein Blick hinüber zur Orthodoxie verschöbe die Gewichte nicht unwesentlich.

2. Glaube als faith und belief

Die religionswissenschaftliche Terminologie verdankt zahlreiche Begriffe der christlichen Religionssprache - auf dem Wege der Übernahme als Lehnwörter, auf dem Wege der Übersetzung als Originalwörter.27 Der kanadische Religionswissenschaftler und Theologe Wilfred Cantwell Smith hat zwischen faith und belief unterschieden. Faith im Sinne von "Gottvertrauen" ist eine das ganze menschliche Dasein tragende und prägende Lebenskraft.28 Sie ist für Cantwell Smith das Primäre. Faith gehöre zum Wesen des Menschen, gilt als "global human quality". Für Cantwell Smith ist es unerheblich, ob der Transzendenzgrund personal oder impersonal erfahren wird, ob es um Allah, Jahwe, Vishnu geht, oder um Tao, Brahman, Nirvana bzw., um mit T.S. Eliot zu sprechen, um den "still point of the turning world". Belief dagegen ist eine intellektuelle Ausdrucksform, meint Glaube im Sinne von Glaubensinhalt, Glaubensvorstellung, "Glaubensformulierung". Religionswissenschaftler haben oft dieses belief-Konzept im Hintergrund, wenn sie Religion(en) in den Blick nehmen: Muslime glauben an Allah und seinen Gesandten; Buddhisten glauben an Buddha, Dhamma und Sangha. Sikhs glauben an die Heiligkeit des Adi Granth Sahib. Als Religionswissenschaftler haben wir uns zu sehr daran gewöhnt, andere Religionen anhand ihrer Überzeugungen, Lehren und Dogmen zu erklären. Oft dient sogar die christliche Dogmatik als (unbewusste) Leitlinie der Systematisierung: Man beginnt die Darstellung der Religionen "mit den Göttern und endet mit dem Jenseits, so wie die Dogmatiker mit De Deo einsetzen und mit De novissimis aufhören."29

3. Glaubensreligionen

Der Systematische Theologe Joachim Track resümiert in seinem Lexikonartikel "Glaube": "In anderen Religionen finden sich zwar Momente des christlichen Glaubensbegriffs" - welche das sind, lässt er offen - "aber keine ausdrückliche Erfassung des Gottesverhältnisses unter diesem Begriff"30. Sein Kollege Carl-Heinz Ratschow warnt vor einer "unkritischen Anwendung des Glaubensbegriffes". Doch ist Ratschow ein zu guter Kenner der Religionsgeschichte gewesen, als dass ihm anderseits nicht auch "Analogien"31 bewusst wären. Hans Waldenfels schließlich, katholischer Fundamentaltheologe und herausragender Kenner der buddhistischen Kyoto-Schule, findet Glauben (faith) "als Haltung des Urvertrauens auf Gott, das Numinose bzw. numinose Mächte" sowohl "real wie auch verbal" im außerchristlichen Raum32. Ich stelle im folgenden einschlägige Begriffe aus Religionstraditionen vor, die so sehr auf die Haltung des "gläubigen Vertrauens" focussiert sind, dass man sie mit Gustav Mensching "Glaubensreligionen" nennen kann.33

3.1 Amana im Islam

Sure 7, 172 enthält die für den Koran grundlegende Idee einer Uroffenbarung. Zu Beginn aller Zeit - "damals" sagt der Koran - offenbarte sich Gott gegenüber allen Menschen. Inhalt dieser Uroffenbarung ist der reine Monotheismus, die schöpfungsgemäße Religion, din al-fitrah. Sie ist allen Menschen eingepflanzt, die deshalb zum "großen Bund" (ahd) gehören. Mit der Idee der din al-fitrah ist der Begriff amana verbunden. Amana drückt eine dynamische Beziehung zwischen Gott und Mensch aus, bedeutet: sicher sein, Schutz und Sicherheit haben angesichts des präsenten Gottes, der es gut mit seinen Geschöpfen meint. Sure 6,95 ff. spricht von den ayyat, den "Zeichen" Gottes, die in allen Bereichen der Schöpfung vorkommen. Immer wieder appelliert der Koran an den Verstand des Menschen und an seinen Iman, sein Gottvertrauen (faith): "Darin liegen Zeichen für Leute, die glauben". Muslime können "glauben", weil ihnen Gott dieses Vertrauen geschenkt hat. Man kann kaum falscher liegen als Oberkirchenrat Reinhard Brandt. Der Referent für Theologische Grundsatzfragen im Lutherischen Kirchenamt Hannover meint ernsthaft: "Christlicher Glaube versteht sich darum zu Recht als fiducia. Dies ist indes für Muslime ganz fremd."34 Dem sei herzhaft widersprochen.

3.2 Saddha im Buddhismus

"Glauben" als Vertrauenshaltung findet sich sogar im Theravada-Buddhismus, auch wenn dies einem vorherrschenden Paradigma westlicher Forschung widerspricht. Der Pali-Begriff Saddha ("Vertrauen, Glaube") bezieht sich aber nicht auf einen Gott, sondern auf einen Menschen: den Gouverneurssohn Siddharta Gautama. Es gibt "keine buddhistische Praxis ohne Vertrauen"35- weder im Theravada, noch in den Schulen des Mahayana. Doch ist Saddha nicht die höchste Erkenntnisform, nicht Heilsursache. Das Heil gründet in einer "Erkenntnis", die das bloße Vertrauen als niedere religiöse Erfahrungsform ablöst. Ein Buddhist "glaubt" an den "vollkommen erleuchteten" Buddha, schenkt ihm sein ungeteiltes Vertrauen, so wie einem erfahrenen Arzt36. Wer die unterste Stufe des "Stromeintritts" erreicht hat, besitzt einen felsenfesten, unerschütterlichen Glauben, ist frei von Zweifeln und Unsicherheit.

3.3 Amida-Buddhismus

Als die ersten jesuitischen Missionare nach Japan kamen, sollen sie nach ihrer Begegnung mit Amida-Buddhisten ausgerufen haben: Die "verdammte protestantische Ketzerei" ist schon bis hierhin gelangt. So auffallend ähnlich war die Bedeutung des Glaubens und die theologische Diskussion über das Verhältnis von Glaube und Werken im Amida-Buddhismus37. Shinjin, wörtlich "glaubendes bzw. vertrauendes Herz", gilt als "Grundhaltung des buddhistischen Heilsweges,"38 wie sie der japanische Mönch Shinran Shonin im 12./13. Jahrhundert entwickelte. Nur durch Shinjin kann man dem Buddha gleich werden und Nirvana erreichen. Eigenes Tun, Verlassen auf die eigenen Kräfte führt nicht zum Heil. Shinjin "entsteht, wo es als Gabe Amidas und nicht als Leistung des Ichs gesehen wird."39

3.4 Affen- und Katzenweg

Mit Recht wird auch die monotheistische Vishnuverehrung im Hinduismus zu den "Glaubensreligionen" gerechnet. Glaube im Sinne von faith macht ihre zentrale religiöse Erfahrung aus, wird bei ihnen zu dem theologischen Thema. Glaube gilt als Geschenk, als Gnade, von außen kommend, auf keinen Fall selbst gemacht. Während sich in der Not ein Affenjunges an seine Mutter klammert, selbst also noch am Heil mitwirkt, lässt sich ein Katzenjunges von seiner Mutter ins Maul packen und davontragen - ohne eigenes Verdienst, sola fide.

4. Man wird nicht nur selig, wenn man "glaubt"

Glaube ist nur eine von mehreren Optionen, Religion zu realisieren. In vielen Religionen wird getanzt und gesungen, erleben die Frommen Auditionen und Visionen, erfahren Menschen Erleuchtungen, gewinnen Erkenntnisse. Die meisten Religionen kommen nicht völlig ohne die belief-Dimension aus, doch kann sie sehr in den Hintergrund treten. Es gibt Religionen ohne standardisierte Glaubensbekenntnisse - der Konfuzianismus zum Beispiel. Konfuzianer "handeln" ihre Religion. Auch der japanische Shinto lässt sich nicht von belief her angemessen erfassen. Der "Weg der Geister", der kami, hat keinen Stifter, besitzt keinen Kanon Heiliger Schriften. Es ist keine Autorität zu erkennen, die Lehrinhalte bindend festlegen könnte. "Shinto (...) formt das Lebensgefühl und die soziale Struktur des Volkes, sein Wertsystem, sein Denken und Handeln, auch wenn seine Weltanschauung nie in formalen Begriffen definiert wurde."40 Die ethnischen Religionen erschließen sich "eher rituell als diskursiv."41 Der hermeneutische Schlüssel zu diesen Religionen ist der Mythos, nicht der Glaube. Zwar gibt es Glaubensvorstellungen (belief), doch erhalten diese ihre Autorität aus der Erfahrung. Daher variieren die Deutungen sehr. Als Häresien werden sie nicht betrachtet.42

II. Glauben alle an denselben Gott?

1. Zur Logik des Wortes "Gott"

Die "Theologische Realenzyklopädie" (TRE) präsentiert einen umfassenden Artikel "Gott". Auch "Die Religion in Geschichte und Gegenwart" (RGG3) gewährt "Gott" lexikalischen Einlass. Beide Lexika sind theologische Standardwerke. Im "Handwörterbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe" sucht man den Artikel "Gott" dagegen vergeblich. Statt dessen treffen wir dort auf den Eintrag "Gottesvorstellungen". "Gott" gilt als theologieverdächtig.

Gott ist ein Lehnwort, das deutsche Äquivalent eines fremden Religionswortes, nämlich des altnordischen goth. Sprachlogisch betrachtet, ist Gott ein Prädikator, ein Gemeinname, der vielen Gegenständen zugesprochen werden kann43. Nach Walter Baetke ist goth ein "kollektivistischer Allgemeinbegriff". Prädikatoren sind auch die alttestamentlichen el/elohim, das griechische theos, das lateinische deus, das vedische deva. Die Christen unterschieden ihren Gott von den Göttern der anderen Religionen dadurch, dass sie das Neutrum goth bzw. später guth maskulin verwendeten. Mit Hilfe der rigorosen Anwendung des Einsquantors bzw. durch Verwendung von Kennzeichnungen ("der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs"; "unser Gott"; "der Gott"; "der Gott, der Israel aus dem Sklavenhaus Ägypten geführt hat" usw.) wurde der Sprachgebrauch monotheistisch normiert. Dies hatte zur Folge, dass "dort, wo der christliche Monotheismus soziokulturell zur Alleinherrschaft kommt," das Wort Gott "vom Prädikator zum Eigennamen wird."44

Christlich-, jüdisch-, islamisch-theologisch ist "Gott" ein Eigenname. Religionswissenschaftliche Rede von Gott aber ist prädikatorisch, gewissermaßen in einem höheren Sinne polytheistisch, weil sie Mono- wie Polytheismen als Teilmengen der Gesamtmenge "Gott" betrachtet. Weil Religionswissenschaftler viele Götter kennen, sprechen sie von "einem Gott", nicht aber von "dem Gott" oder von "Gott" ohne Artikel. Religionswissenschaftlich sinnvoll ist die Rede von "einem Gott" erst "mit der Konstitution eines Personbegriffs im Rahmen der Institutionalisierung komplexer Kulturen als Staaten". Ein Gott tritt in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf: anthropomorph, theriomorph, mischgestaltig, anikonisch. Mit einem Gott sind immer "Sozialbeziehungen konzipiert". Ein Gott handelt mit Macht und Willen, tritt geschlechtlich differenziert in Erscheinung. Ein Gott - er oder sie - plant, weiß, übt Gerechtigkeit aus. Berühren, erzeugen, gebären, erschaffen, kämpfen, töten, lenken, steuern, herrschen sind typische Tätigkeiten eines Gottes. Ein Gott ist durch Körperlichkeit, Größe und Gewicht, Geburt, Jugend charakterisiert. Ein Gott altert, stirbt, steht wieder auf, bewegt sich fort, erscheint als Epiphanie. Ein Gott hat Namen und Bild, ist lokalisierbar. Im kommunikativen Bereich gibt es körperliche, materielle, verbale, spirituelle Kontakte. Anschauen und sehen gehören ebenso zur Kommunikation wie Abwesenheit, Unsichtbarkeit, Unerkennbarkeit, Transzendenz, Verehrungsformen, asymmetrische Beziehungen.45

Religionswissenschaftler benutzen bei der Darstellung monotheistischer Religionen Gott als Eigenname. Sie sprechen dann von Gott im Sinne des "als ob": als ob es sich um den einen und einzigen handelte; denn dies entspricht dem Selbstverständnis der Gläubigen. Religionswissenschaftliche Gott-Rede ist nicht dogmatisch.46 Religionswissenschaftliches Reden von Gott im Sinne des "als ob" ist daher nicht "das Ergebnis der Glauben erweckenden Zusage Gottes,"47 sondern nachempfindend, das jeweilige Selbstverständnis beschreibend und verstehend.

2. Gott als konstitutives Element von Religion(en)?

Von abendländischer Erfahrung herkommend, liegt es nahe, Gott und Götter zur Grundlage von Religion zu machen. Überall in der Religionsgeschichte der Menschheit soll Gott anzutreffen sein.48 Evolutionistische Theorien vom Hochgottglauben und Urmonotheismus, die die Religionsforschung im Zusammenhang mit der Suche nach den Anfängen der Religion beschäftigten, finden heute kaum noch Anhänger - zumindest nicht in der engeren scientific community. Auch das an die Stelle eines Gottes getretene Heilige oder Numinose als religiöses Konstituens wird von einer großen Mehrheit der Religionswissenschaftler nicht mehr geteilt. Immer wieder, nun auch neuerdings, hat Sundermeier für die "Gotteserfahrung als einem konstitutiven Element von Religion"49 plädiert und vor allem auf die von ihm sog. "Primären Religionen" hingewiesen. Ob Gott eine religionsgeschichtliche Grundgegebenheit ist, wird mit Blick auf die ethnischen Religionen aber sehr unterschiedlich beurteilt. Die "Entdeckung" von Gott-Glauben im ethnoreligiösen Bereich ist dem Verdacht ausgesetzt, Projektion eigener (theologischer) Wünsche zu sein. Hinter angeblich "ursprünglichen" Gottesvorstellungen verbergen sich oft komplizierte Akkulturationsvorgänge. Viele afrikanische Ethnien haben die Vorstellung eines Gottes aus Christentum, Islam oder einer ihrer Nachbarethnien entlehnt. Afrikanische Gottesvorstellungen lassen sich nicht mit den handelsüblichen Etiketten Hochgottglaube, Monotheismus, Polytheismus bezeichnen50. In vielen ethnischen Religionen stehen Tiere, Naturgegenstände, Geister, Dämonen viel stärker im Vordergrund als ein Gott im Vollsinn des Wortes.51

Grenzkonzepte für den Volltyp von Gottesvorstellungen sind die "Urhebergestalten" in Wildbeuter- sowie die Dema-Gottheiten in Pflanzerkulturen. Klarere Persönlichkeitsprofile haben die Gottesvorstellungen in ackerbautreibenden Ethnien. Die Gottesvorstellungen bei Hirtenvölkern nähern sich dem biblisch-christlichen Gottesbild an.

Für manche Religionstraditionen gehört die Vorstellung eines Gottes sogar zu den defizitären Konzeptionen des Absoluten. Hindus haben viele Ausdrücke für Gott, wobei Brahman ("Urgrund") Neutrum und nicht pluralisierbar ist. Brahman ist eigenschaftslos, zugleich aber voller Eigenschaften. Auch im Mittelpunkt des Buddhismus steht eine impersonale Größe: das Nirvana, der Zustand des Nicht-mehr-Wehens, der Ruhe, "die impersonale numinose Wirklichkeit schlechthin"52. Shunyata - "Leerheit", "Nichts", das "Formlose", "reines Sein", "reine Soheit" - mit solchen Begriffen versuchen Mahayana-Buddisten die höchste Wirklichkeit zu benennen. Das chinesische Tao ist von europäischen Gelehrten mit Ratio, Vernunft, Weltgrund, Natur, Leben, Gott und Gottheit übersetzt worden. Alle Übertragungen zielen auf die "letzte Realität" ab, aus der alles hervorgegangen ist. Buddhisten, Taoisten, Advaitins - Vertreter einer monistischen Alleinheitslehre im Hinduismus - glauben an keinen Gott wie Christen, Muslime oder andere.

III. Glauben alle an einen Gott?

Marjorie Leach listet in ihrem opulenten Götter-Führer53 weltweit über 20.000 verschiedene Götternamen auf. Vollständigkeit dürfte die belesene Autorin damit nicht erreicht haben.54 Die empirische Vielfalt der transzendenten Wesen lässt dem Religionswissenschaftler keine Wahl: Selbstverständlich glauben nicht alle an einen Gott, und schon gar nicht an den numerisch einen. Die christlich-abendländische Rede von Gott hat so sehr das Gegenüber - die Götter - desavouiert, dass der bloße Singular nicht nur die quantitative Eins meint, sondern zugleich tiefes Misstrauen, ja Verachtung gegenüber dem Plural impliziert. Bis in seine tiefsten philosophischen Gedanken hinein ist abendländisches Denken durch die Vorstellung eines Gottes bestimmt. Die Religionsgeschichte als Erfolgsgeschichte der Eins: Diese globale Evolutionstheorie, von der sich die Religionswissenschaft lange verabschiedet hat, kann göttlichen Pluralismus nur schwer ertragen. Um die religionswissenschaftlichen Begriffe Monotheismus bzw. Polytheismus ist neuerdings wieder eine Diskussion entstanden. "Die Forschungsgeschichte von ‘Polytheismus’ ist bis in die Gegenwart hinein Teil der Europäischen Religionsgeschichte und insoweit vor allem durch eine ‘Verteidigung des Singulars’ charakterisiert,"55 resümiert Burkhard Gladigow. Der religionsgeschichtliche Normalfall Polytheismus wurde forschungsgeschichtlich zum "Sonderfall"56.

IV. Glauben alle an denselben Gott?

Im folgenden möchte ich den Blick auf klassische religionsgeschichtliche Ein-Gott-Glaube-Modelle lenken. Aus religionspsychologischer Perspektive wäre es lohnend, der Frage nachzugehen, ob die höchste, nämlich sechste "Stufe des Glaubens", wie sie der amerikanische Theologe und Entwicklungspsychologe James Fowler57 beschrieben hat, in ihrer Gestalt als "universalisierender Glaube", den Einheitsgedanken impliziert. Personen dieser Stufe haben Glaubensformen hervorgebracht, in denen die Vision eines letzten Umgreifenden alles Seiende einschließt und zur Verbundenheit mit Menschen anderer Glaubenstraditionen führt. Überprüfungen des Fowlerschen Modells bei Muslimen, Hindus, Buddhisten usw. sind mir bislang nicht bekannt. Hier besteht eine interdisziplinär zu schließende Forschungslücke.

1. Gleichsetzungen funktionsgleicher Götter

Logische Identitäten im strengen philosophischen Sinn sind in religiösen Texten nur ausnahmsweise vorhanden. Weit häufiger sind Gleichsetzungen bzw. Identifikationen. Religionsgeschichtlich häufig sind Gleichsetzungen des folgenden Typus: Gott A ähnelt bzw. gleicht Gott B, wobei der Grad und die Form der Ähnlichkeit bzw. Gleichheit unterschiedlich sein können. Im altindischen Atharvaveda (14,4,1ff.) heißt es von dem einen Gott: "Er steigt als Savitar hinauf zum Himmel, als großer Indra verhüllt geht er zum Gewölke. (...) Er ist Vayu mit aufgetürmtem Gewölk. Er ist auch Yama". Über Indien hinaus bietet die allgemeine Religionsgeschichte genügend Beispiele für die Gleichsetzung funktionsgleicher Götter. Durch solche Identifikationen soll ihre Macht und Wirksamkeit gesteigert werden. Die Prädikaten- und Funktionshäufungen der Götter führen zu deren Vielnamigkeit. Inner- wie interreligiösem Synkretismus liegt ein Einheitsgedanke zugrunde. Im alten Ägypten wurden mehrere Götter bzw. Halbgötter zu einer Großgottheit zusammengeschlossen. Dabei überlagerten sich politische, ethnische, geographische, ökonomische Gründe. Beim interreligiösen Synkretismus kam es zu Gleichsetzungen: weil Machtzuwachs der lokalen Gottheit angestrebt wird, "aus einem theoretischen Harmonisierungsbedürfnis im Kontakt mit fremden Völkern, aus einem praktischen Bedürfnis nach kultischer Orientierung in einem fremden Land, oder einfach aus politischen Erwägungen."58

2. Kryptische Identifikationen

Mit dem Indologen Axel Michaels verstehe ich unter einer "kryptischen Identifikation" die Auffassung, dass die Götter B, C, D usw. im Grunde der Gott A sind, von dem derjenige, der diese kryptischen Identifikationen vornimmt, als seinem Gott ausgeht. Der Gedanke, dass sich hinter den vielen Göttern der eine verbirgt, dass die vielen Namen letztlich nur den einen meinen, ist an vielen Stellen der Religionsgeschichte festzustellen. Seit früher Zeit bietet die indische Religionsgeschichte Beispiele für diese "inklusivistische" Haltung. Inklusivismus besteht nach Hacker darin, "dass man erklärt, eine zentrale Vorstellung einer fremden religiösen oder weltanschaulichen Gruppe sei identisch mit dieser oder jener zentralen Vorstellung der Gruppe, zu der man selber gehört". Der fremde Gott wird mit dem eigenen für identisch erklärt. Dazu gehört nach Hacker "ausgesprochen oder unausgesprochen die Behauptung, dass das Fremde (...) in irgendeiner Weise ihm untergeordnet oder unterlegen sei. Ferner wird ein Beweis dafür, dass das Fremde mit dem Eigenen identisch sei, meist nicht unternommen"59.

In der Bhagavadgita, der volkstümlichsten aller heiligen Hindu-Schriften, heißt es (IX, 23): "Und jene, welche anderen Göttern anhängend von Glauben erfüllt ihnen opfern, auch die (...) opfern nur mir, obschon sie es sich nicht vorgenommen haben". In einer der beeindruckendsten Gottesvisionen der Religionsgeschichte, im 11. Gesang der Bhagavadgita, stammelt der Krieger Arjuna: "Ich sehe alle Götter, o Gott, in deinem Körper, ebenso Scharen verschiedener Wesen; (...) Ich sehe von dir weder ein Ende, noch eine Mitte, noch einen Anfang, o Herr des Alls, o Allgestaltiger" (11,15f.).

3. "Erlebte" und "erkannte" Identitäten

Die Mystik ist eine "interreligiöse Strömung"60, deren gemeinsame Struktur in dem Gedanken von der "Teilhabe des Menschen an Gott"61 besteht. In allen Religionen gibt es Mystikerinnen und Mystiker, die die Einheit Gottes erlebt, erfahren haben. Anderseits gibt es Mystiker, die sich dem Problem der Einheit denkend gestellt haben.

Der Hindu-Heilige Ramakrishna (1836-1886), der aus einer frommen und orthodoxen Vaishnava-Familie stammte und der obersten Brahmanen-Kaste angehörte, erlebte in mehreren Visionen die zugleich gütige und schreckliche Kali, die Göttliche Mutter Hindu-Indiens. Unter Anleitung eines islamischen Sufi schaute er Mohammed. Nicht zuletzt fühlte er sich von Christus ergriffen, der ihn mit seiner göttlichen Wirklichkeit ganz durchdrungen habe. Ramakrishna folgerte daraus: "Alle Religionen habe ich erprobt: Hinduismus, Islam, Christentum, und auch die Pfade der verschiedenen Hindusekten bin ich gewandelt (...) Ich habe gefunden, es ist derselbe Gott, dem alle auf verschiedenen Pfaden zustreben"62. Für den Hindu-Heiligen waren die verschiedenen Götter nur Namen für letztlich ein und dieselbe numinose Wirklichkeit. "Wie ein und dasselbe Wasser in den einzelnen Sprachen verschieden benannt ist - der eine nennt es ‘Wasser’, ein anderer ‘vari’, ein Dritter ‘aqua’, und ein Vierter ‘pani’- so wird Saccidananda von einigen als Gott angerufen, von anderen als Allah, von anderen als Hari und wieder anderen als Brahman"63.

Zwei Vertreter des neuzeitigen Reformhinduismus, Vivekananda und Sarvepalli Radhakrishnan, denken eine "Gottheit über Gott" - ein genuin mystischer Gedanke. Svami Vivekananda machte sich auf dem "Weltparlament der Religionen" in Chicago 1893 zum Sprecher für die Einheit Gottes und der Religionen. Die unterschiedlichen Gottesvorstellungen waren für ihn nur ein Prozess zu fortschreitender Wahrheitserkenntnis.

4. Inkongruente Identitätsbehauptungen

Wie bei dem Modell der kryptischen Identifikationen wird auch hier Gott B zum Gegenstand der Reflexion von Religion A. Deutlich kristallisiert sich das Phänomen inkongruenter Beziehungen heraus: Religion A lehrt etwas über Religion B, das diese nicht akzeptiert - zumindest bisher nicht oder jedenfalls nicht so ohne weiteres. Die islamisch-christlichen Beziehungen sind ein gutes und aktuelles Beispiel für solche inkongruenten Identitätsbehauptungen.

Für viele protestantische Theologen ist die Identität ihres Gottes mit dem Gott der Muslime alles andere als zweifelsfrei. Dem theologischen mainstream der Muslime aber ist diese Identität seit den Zeiten des Korans selbstverständlich. Der Koran ist davon überzeugt, dass Allah und der Gott von Juden und Christen - für den man ja keinen anderen Begriff besitzt - ein und derselbe ist: "Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt und zu euch herabgesandt wurde. Unser Gott und euer ist einer. Und wir sind ihm ergeben", lautet Sure 29,46.

Für Karl Barth war Allah "ein Götze wie alle anderen Götzen"64. Vordenker des gegenwärtigen christlich-islamischen Dialogs haben solche Positionen hinter sich gelassen. In der dogmatischen Konstitution über die Kirche ("Lumen Gentium"), vom Zweiten Vatikanischen Konzil verabschiedet im November 1964, lautet die entscheidende Aussage: Die "Heilsabsicht [Gottes] umfasst aber auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslime, die (...) mit uns den einzigen Gott anbeten..." Das Schlussdokument des ersten Dialogtreffens des Ökumenischen Rates der Kirchen mit Repräsentanten des Islam in Cartigny 1969 enthält den bemerkenswerten Satz: "Judentum, Christentum und Islam gehören nicht nur historisch zusammen; sie sprechen auch von demselben Gott...". Martin Bauschke hat soeben in seiner von mir betreuten Dissertation die in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsene "Wolke der Zeugen" des Ein-Gott-Glaubens dokumentiert.65

Solche theologischen Erkenntnisse setzen sich sehr langsam, sehr zäh in der protestantischen Universitätstheologie durch. Für viele Kirchengemeinden sind derartige Einsichten ebenfalls gewöhnungsbedürftig. Die erregte Diskussion um den Muezzinruf hat dies deutlich gezeigt. Jenseits theologischer Gründe hängt die Akzeptanz der Ein-Gott-Rede nicht zuletzt von lokalen bzw. regionalen Umweltbedingungen ab, also davon, ob die Muslime als real existierende Personen im Lebensalltag von Protestanten und Katholiken vorkommen. In Thüringen ist dies noch anders als in Nordrhein-Westfalen, wo der Vorgang unumkehrbar geworden ist.

5. Pluralistische Theologien

So nennt sich das Programm einer Gruppe anglo-amerikanischer Theologen, deren Einfluss auch in Deutschland spürbar ist. Pluralistische Religionstheologie einer bestimmten Couleur geht von dem Gedanken der "Einheit in der Vielfalt" aus. Alle Erlösungsreligionen seien auf einen gemeinsamen Transzendenzgrund ausgerichtet, dessen kreativ-heilsamer Geist sie hervorgebracht habe. Der Vordenker und Wortführer der Pluralistischen Theologie, John Hick, wendet Kants erkenntnistheoretisches Instrumentarium auf die Gotteslehre an: Die religionsgeschichtlichen Götter sind Namen oder Gesichter des Numinosen, das hinter allen liegt. Sie verhalten sich zu ihm wie die Erscheinungen zum "Ding an sich", wie die Phänomene zum Noumenon. Eine andere pluralistische Richtung ist mit den Namen Raimundo Panikkar und Gordon Kaufmann verknüpft. Beide Gelehrte halten Aussagen über einen gemeinsamen Transzendenzgrund für rein spekulativ. Die Pluralität der Religionen sei "unhintergehbar"66. Hicks Position, die von Paul F. Knitter befreiungstheologisch weitergedacht wurde, ist inzwischen Gegenstand einer innertheologischen Debatte.67 Insbesondere der in Oxford lehrende Systematiker Alister E. McGrath hat auf die Traditionsabhängigkeit selbst der Kantschen Gottesidee hingewiesen, die "zutiefst geprägt" sei "von impliziten christlichen Annahmen über Gott."68 Einer der profiliertesten Hick-Kritiker, Gavin D`Costa, erhebt den Vorwurf des spekulativen oder mystischen Monismus.69 In der deutschen protestantischen Theologie ist auf so profilierte Denker wie Ulrich Mann70 und Paul Schwarzenau71 hinzuweisen, welche die Einheit Gottes und damit der Religionen auf der Grundlage der Tiefenpsychologie C.G. Jungs begründen.

Religiös geprägte Religionswissenschaftler - sie sind gewissermaßen Vordenker der pluralistischen Theologien - sind dafür anfällig, in der allgemeinen Religionsgeschichte ihren eigenen Gott wiederzufinden. "Ich weiß, dass Gott lebt. Ich kann es beweisen durch die Religionsgeschichte". Diese Worte soll Nathan Söderblom, der schwedische Erzbischof, Religionswissenschaftler und Friedensnobelpreisträger, am 12. Juli 1931 auf seinem Sterbebett gehaucht haben. Friedrich Heiler erblickte die vornehmste Aufgabe seines Faches darin, den einen und denselben Gott in der Religionsgeschichte zu erkennen: "Alle Religionswissenschaft ist letztlich Theologie, sofern sie es mit dem Erlebnis jenseitiger Realitäten zu tun hat."72 Jahrzehnte schmerzvoller Reinigung im Fegfeuer von Theorie und Methode haben Religionswissenschaftler zur Erkenntnis geführt: Aussagen wie die Söderbloms und Heilers sind religionswissenschaftlich nicht legitim. Es ist nicht die Aufgabe des Faches, "jenseitige Realitäten zu erleben."73

C. Auf der Spur des Elefanten - ein Gleichnis, viele Lesarten

Nach der Prosa religionswissenschaftlicher bzw.- theologischer Vernunft nun zur interreligiösen Poesie. Je tiefer und umfassender eine Wahrheit, umso stärker bedarf sie aussagekräftiger Bilder, um sich auszudrücken. Der Kirchenhistoriker Ernst Benz hat einmal gesagt: "Die großen Frommen aller Religionen, die über das Verhältnis der Religionen zueinander und über ihr Verhältnis zu der einen Wahrheit nachgesonnen haben, haben ihre Erkenntnisse nicht in abstrakten Begriffen, sondern in Bildern und Gleichnissen ausgedrückt."74 Vom Mond, der in verschiedene Gewässer scheint und unterschiedlich reflektiert wird, ist die Rede. Oder vom Chamäleon, das ständig seine Farbe wechselt, bzw. vom funkelnden Edelstein, der je nach Drehung unterschiedlich strahlt. Ich möchte statt dessen die Geschichte von den Blindgeborenen und dem Elefanten erzählen, die uns auf poetische Weise der Lösung unseres Problems näherbringen mag.

I. Die buddhistische Urversion

Lassen Sie sich für wenige Minuten geistig von mir nach Nordindien entführen, an die Grenze zum heutigen Nepal. Wir befinden uns in Savatthi, der stark befestigten Hauptstadt eines Bezirkskönigs, das heutige Saheth-Maheth in Uttar Pradesh. Es ist eine brodelnde Metropole, berühmt wegen ihrer reichen Kaufleute. Basarstraßen für Töpfer und Weber, Köche, Juweliere und andere Zünfte durchziehen die Stadt. An der einen Ecke werden Schauringkämpfe ausgetragen, an der anderen führt eine Truppe Buntgewandeter Tänze auf. Schauspiele werden dargeboten. Aus Trinkstuben dringt Lärm auf die Straßen und Gassen. Freudenmädchen locken Kunden an. Savatthi ist auch ein geistig anregendes Zentrum: Brahmanen, die Repräsentanten des obersten Hindu-Geburtsstandes, und Vertreter alternativer Religionsausrichtungen werben für ihre Ansichten. Wir treffen auf Siddharta Gautama, den man seit einiger Zeit schon Buddha nennt, den "Erwachten". In Savatthi hat er eine feste Bleibe für sich und seine Mönche: den beschaulich gelegenen Jeta-Hain des Kaufmanns Anathapindika. Wir wissen nicht das Jahr, in dem sich die folgende Begebenheit abspielt. Allenfalls das Jahrhundert: das 5., vielleicht auch das 4. vor unserer Zeit. Aber die Jahreszeit lässt sich genauer bestimmen: Es muss zwischen Juni und September sein, der Zeit der Monsunregen. Während dieser Monate ziehen Buddha und seine Jünger nicht mehr lehrend und verkündigend - didaskein und keryssein - umher. Sie beziehen ein festes Quartier, ruhen aus von den Strapazen der Straßen und Wege.

Die Buddha-Bewegung ist Teil der in sich vielfältigen antibrahmanischen Alternativbewegungen. Ihre Vertreter kritisieren auf das schärfste die überkommene Opferpraxis und das Kastensystem. Für den "Erwachten" sind diese anderen Wanderlehrer aber nur Repräsentanten einer ganz und gar nutzlosen, nicht zum Heil führenden Philosophie:

"Und diese zänkischen, hadernden, in Streitrede geratenen Leute schlugen und verletzten sich gegenseitig mit scharfen Worten: ‘So ist die Wahrheit, die Wahrheit ist nicht so; nicht so ist die Wahrheit, die Wahrheit ist so’ ".

In dieser Situation bitten Buddhas Mönche den "Erwachten" um intellektuelle Hilfestellung. Und der Buddha hält eine berühmte Lehrrede. Er kleidet seine Antwort in die "Geschichte von den Blindgeborenen und dem Elefanten". Nach formgeschichtlicher Texttypologie handelt es sich um eine Parabel. Im Unterschied zum Gleichnis wird nämlich kein Ablauf geschildert, "der in der natürlichen oder sozialen Lebenswelt regulär und immer wieder vorkommt"75, sondern etwas Ungewöhnliches. Die Geschichte ist frei erfunden, kommt in der Wirklichkeit so typischerweise nicht vor. Zu den Akteuren gehören in der Reihenfolge ihres Auftretens: ein König, sein Diener, alle Blindgeborenen von Savatthi - sowie ein Elefant.

Ein König beauftragt seinen Diener, alle Blindgeborenen der Stadt zusammenzubringen und ihnen einen Elefanten zu zeigen. Jedem Blindgeborenen zeigt er einen anderen Körperteil: Kopf, Ohr, Zahn, Rüssel, Rumpf, Fuß, Hinterteil, Schwanz - schließlich das behaarte Schwanzende. Der König fordert die Blindgeborenen auf: "Sagt, ihr Blindgeborenen, wie ist denn ein Elefant?" Jeder beschreibt den Elefanten nach dem Teil, den er ertastet hat. Zwei Beispiele:

"Die unter den Blindgeborenen, ihr Mönche, welche sich den Kopf des Elefanten angesehen hatten, sagten: ‘Majestät, wie ein Kessel ist ein Elefant’ (...) Die unter den Blindgeborenen, ihr Mönche, die sich das behaarte Schwanzende des Elefanten angesehen hatten, sagten: ‘Majestät, wie ein Besen ist ein Elefant’ ".

Schließlich geraten sie in Streit: "Und unter dem Geschrei: ‘So ist ein Elefant, ein Elefant ist so’, wurden sie mit den Fäusten gegenseitig handgemein."

Nachdem Buddha die Parabel erzählt hat, wendet er sie auf die aktuelle Situation an: "Genauso, ihr Mönche, verhält es sich mit den Wanderasketen verschiedener Richtungen. Blind und augenlos erkennen sie nicht, worauf es ankommt und worauf es nicht ankommt; sie erkennen nicht die Wahrheit und was nicht die Wahrheit ist. Da tat der Erhabene, nachdem er erkannt, was dies zu bedeuten hatte, bei jener Gelegenheit folgenden feierlichen Ausspruch: ‘So hört man es: Es klammern sich manche Asketen und Brahmanen an diese Dinge; es streiten sich und geraten in Widerrede die Menschen, die nur einen Teil sehen’ ".

Buddhas Anliegen ist die Befreiung des Menschen aus seiner "existentiellen und generellen Unheilssituation". So hat Gustav Mensching die buddhistische Ursünde, dukkha, das "Leiden", genannt. Mögen die Fragen nach Anfang und Ende der Welt wohl interessant sein, so bringen sie den Leidenden nicht einen Millimeter aus seiner Unheilssituation heraus. Sie führen ihn statt dessen nur noch tiefer in die fundamentale Misere hinein. Die Vertreter der verschiedenen Richtungen sind alle von Geburt an blind. Der einzig Sehende ist der König, also Buddha. Der "Allwissende" hatte keinen Lehrer. Er verdankte seine Erkenntnis der eigenen Erwachung. Die Erzählung endet zynisch. Der Herrscher amüsiert sich königlich über die aufeinander einprügelnden Blindgeborenen. Buddhistische Interpreten lesen die Geschichte von den "Blindgeborenen" und ihren Erkenntnisleistungen her, nicht aber vom Elefanten76. Buddha vertritt einen unüberhörbaren Absolutheitsanspruch: Nur er sieht, alle anderen sind blind. Nur seine Lehre führt zum Heil, alle übrigen sind nutzlos. Buddha geht es in erster Linie um den Nachweis der defizitären Erkenntnismöglichkeiten der immer schon Blinden.

Mehrere Religionstraditionen haben das Motiv von den Blindgeborenen und dem Elefanten rezipiert. Wir können die Spur des Elefanten im Jainismus und in Hindu-Traditionen verfolgen. Auch in der islamischen Mystik und im Christentum ist sie belegt.

Die Geschichte ist in unterschiedlichen Textsorten überliefert: als Gleichnis, Parabel und Beispielgeschichte, als Fabel, Märchen und Karikatur. Auch die Akteure sind variabel: Kinder, Schüler, Männer, Bettler, Narren, selbst Mäuse77 - allesamt blindgeboren oder blind. Die Textmenge unterscheidet sich ebenfalls, reicht von einem langen, weitschweifigen, auf dem Prinzip der Wiederholung aufgebauten Text - im Buddhismus -, bis zu Verdichtungen auf wenige Zeilen. Die bisher noch nicht gründlich untersuchte Rezeptionsgeschichte setzt sich in unseren Tagen fort. So gehört der Text seit langem zu den, man könnte fast sagen, Gebrauchstexten des Religionsunterrichts. Wir finden die Erzählung in Religionsunterricht und Predigt, in gelehrten Abhandlungen zur interreligiösen Theologie und solchen ihrer Bestreiter, in der Arbeit der evangelischen Frauenhilfe usw. Ich breche die Aufzählung ab.

II. Notizen zur noch nicht geschriebenen Rezeptionsgeschichte

Wie jede gute Erzählung, so ist auch unsere Geschichte immer wieder neu erzählt und gedeutet worden. Man erkennt das schon an den Überschriften. Überschriften wirken wie Signale, wecken bestimmte Erwartungshaltungen, geben Interpretationsrichtungen vor, die zu einer bestimmten Rezeptionsweise einladen. Je personalistischer das Gottesbild einer Religionstradition ist, umso stärker verschiebt sich das Interesse der Geschichte von den Blindgeborenen zum Elefanten. Im Islam und Christentum wird er zum Symbol für "Gott".

In einer kindgemäßen Version aus dem Jainismus geht es weniger streitlustig als im Buddhismus zu. Und es gibt auch keinen lachenden Dritten. Jeder der fünf Blinden hat nach Ansicht des Dorfweisen "Recht und Unrecht zugleich". Die eine Wahrheit wird nicht den vielen Unwahrheiten gegenübergestellt. Wahrheit wird additiv definiert: "Wenn ihr eure partiellen Ansichten zusammenlegt, dann habt ihr eine Vorstellung davon, wie ein Elefant aussieht". Die Jaina-Version expliziert die Lehre von den "verschiedenen Standpunkten": "Jeder von uns sieht die Dinge exklusiv von seinem eigenen Standpunkt aus. Wir sollten versuchen, auch die Standpunkte anderer Menschen zu verstehen. (...) Wir müssen Religion, Wahrheit und Realität aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten"78.

Die Elefantengeschichte ist oft in Hindu-Indien erzählt worden, u.a. bei den Shaivas, den Anhängern des monotheistischen Großgottes Shiva. Indische Schulbücher kommen ohne die Geschichte nicht aus. Nach der Version Ramakrishnas will ein Lehrer seinen blinden Schülern klarmachen, wie ein Elefant aussieht. Im Unterschied zur buddhistischen Lesart streiten sich die Kinder nicht, und der Lehrer lacht auch nicht. Ein auktorialer Erzähler präsentiert die Antwort: Die Beschreibungen der Kinder sind nicht hinreichend; denn der Elefant ist "die Gesamtsumme von ihnen und noch etwas mehr". Diese Erkenntnis wird auf das Gottesbild - denn um dieses geht es in erster Linie - übertragen. "Alle Vorstellungen von dem Allmächtigen (sind) nur teilweise richtig, und auch er ist die Gesamtsumme aller solcher Vorstellungen und sogar noch etwas mehr; denn er ist das Unendliche Wesen, und keine Beschreibung kann genügen, um einem mitzuteilen, wie er tatsächlich (beschaffen) ist. Der Mensch kann wegen der Begrenztheit seiner Fähigkeiten nur einen Teil der ganzen Wahrheit erkennen".

Persische Sufis haben die Geschichte aufgegriffen. Maulana Djalal ad-din Rumi verdankt sie seinem Vorgänger Abu`l-Majd Majdud Sana`i. Notieren wir nur die wichtigsten Veränderungen: Alle Bewohner einer großen Stadt sind blind. Ein König belagert die Stadt. Er besitzt einen mächtigen, allseits Furcht verbreitenden Kampfelefanten. Die islamische Version kennt keinen Sehenden: weder König, Lehrer noch Weiser. Stattdessen aber einen allmächtigen Erzähler, der das Geschehen aus seiner erhabenen Warte kommentiert. Er hält die Blinden für "Narren". Sie gewinnen überhaupt keine richtige Erkenntnis. "Jeder machte sich auf solche Weise eine völlig irrige und unzutreffende Vorstellung von dem Elefanten und glaubte aber doch an die Wahrheit seiner Einbildung". Die besondere islamische Wendung zeigt sich nicht in erster Linie daran, dass "keiner das Ganze (erkannte)", sondern daran, dass der Mensch "das Wesen der Gottheit nicht (erkennen kann)". "Und die Gelehrten können darüber nichts in Erfahrung bringen."79

In ihrer langen, noch nicht beendeten Rezeptionsgeschichte hat die Erzählung inner- wie interreligiöse Auslegungen erfahren. Sie hat die Verhältnisbestimmung einzelner Traditionen innerhalb eines Religionsorganismus im Blick oder den eigenen Gott in Beziehung zu anderen Göttern gesetzt. Dabei zeichnet sich folgende Deutungsbandweite ab: Alle Blindgeborenen haben unrecht, nur einer hat die ganze Erkenntnis (Buddhismus) - Alle Blindgeborenen irren sich; denn "Gottes" Wesen lässt sich nicht erkennen (Islam) - Alle Vorstellungen sind teilweise richtig, reichen jedoch nicht einmal zusammengenommen aus (Hinduismus) - Alle haben Teilerkenntnisse, doch erst zusammengenommen ergibt sich ein Gesamtbild (Jainismus).

D. Zu guter Letzt: eine persönliche Antwort

Die Religionswissenschaft ist von der Rolle überfordert, die viele, nicht zuletzt viele Suchende, von ihr erhoffen. Sie kann keine Antwort darauf geben, ob sich die verschiedenen Götter auf ein und denselben Gott - welchen denn nur? - hin projizieren lassen, ob sie nur verschiedene Namen für eine einzige Realität sind. Religionswissenschaftler fühlen ein tiefes Unbehagen gegenüber dem blutleeren, imaginären Durchschnitts „gott". Heinrich Ott, Nachfolger auf dem Lehrstuhl Karl Barths in Basel, hat davon gesprochen, dass „in der Begegnung und intensiven Beschäftigung mit einer anderen Religion (...) uns zuweilen ein Gefühl von Nähe (überkommt)"80. Mir ist das mit dem Islam so gegangen. Als mich vor vielen Jahren meine älteste Tochter Miriam fragte, ob denn unser Gott und der Gott meines hochgeschätzten islamischen Kollegen und Freundes, des 1996 verstorbenen Abdoldjavad Falaturi - dem dieser Vortrag gewidmet ist - derselbe sei, habe ich die Frage mit einem klaren "Ja" ohne jede Einschränkung und Hintertür beantwortet. Aber das war eine religiöse Antwort - und keine religions­wissenschaftliche.