Paten
im neuen Gewand
Früher hantierte die sizilianische Mafia mit Dynamit, heute regelt
sie ihre kriminellen Geschäfte online. Die Cosa Nostra bekämpft den
Staat nicht mehr, sondern geht in ihm auf
Von
Walter de Gregorio
|
Antonio Ciavarello sah seinen Schwiegervater erstmals nach der Hochzeit. Eine Stunde durfte er mit ihm reden, umarmen konnte er ihn nicht. Vier Zentimeter dickes Panzerglas trennten ihn von seinem neuen Papa. Die kurze Besuchszeit im Gefängnis genügte immerhin, um ein klares Urteil zu fällen. "Diese Augen, dieser Blick - mein Schwiegervater strahlt eine Wärme aus, die ich nie zuvor bei jemandem erlebt habe." Alles hatte Antonio versucht, dass der Schwiegerpapa bei der Hochzeitsfeier dabei sein konnte - hatte verschiedene Anwälte eingeschaltet, dem Gefängnisdirektor in Ascoli Piceno und der Staatsanwaltschaft in Palermo Briefe geschickt mit Kopien ans italienische Justiz- und Innenministerium. "Die Behörden zeigten kein Herz", sagt Ciavarello.
Die Hochzeit zu verschieben hätte nichts gebracht. Theoretisch kommt Ciavarellos Schwiegervater ums Jahr 3500 frei. Zwanzig lebenslängliche Haftstrafen muss er, von Italiens Karikaturisten sinnigerweise Godot genannt, wegen mehrerer Dutzend Morde absitzen. Bis zu seiner Verhaftung im Januar 1993 galt er als capo dei capi, als oberster Boss der sizilianischen Mafia, welche die Paten selbst Cosa Nostra nennen, "unsere Sache". Salvatore Riina - für Freunde schlicht Onkel Totò oder Totò u' curtu, Totò der Kurze, geheißen - war in den Augen der Strafbehörden der Gewalttätigste von allen. Sowohl das Bombenattentat auf Richter Giovanni Falcone im Mai 1992 als auch jenes auf Richter Paolo Borsellino wenige Wochen danach gehen auf sein Konto. Ganz zu schweigen von unzähligen Mordanschlägen in Zusammenhang mit internen Machtkämpfen rivalisierender Mafiaclans.
Die Fahnder sind überzeugt, dass auch Ciavarello, der Schwiegersohn des Paten, früher oder später in den Sog der Cosa Nostra gezogen wird - wenn dies nicht schon lange geschehen ist. Viele in Italien glauben, das Geld sei der Grund, sich der Mafia anzuschließen. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Antonio Ciavarello wurde ein Ehrenmann, weil er zuvor in Palermo ein Herr Niemand war. Nachher hätten, wo auch immer er hinging, die Leute ehrfürchtig den Kopf gesenkt. Für ihn habe dieser Respekt keinen Preis gehabt. Ciavarello nennt heute niemand mehr Baccalà e salsiccia, Stockfisch und Wurst, obwohl er nach wie vor 150 Kilo wiegt. Jetzt ist er der Schwiegersohn des Paten, stellt sich als Tony vor und nicht mehr als Tonino.
"Ich kann nicht für die Fehler anderer büßen", sagt er im Black & White-Pub, der am Dorfeingang von Corleone liegt. Vor acht Jahren hat er seine Frau, Maria Concetta, in ebendiesem Pub kennen gelernt, wo er jetzt für das Gespräch - "ohne Aufnahmegerät" - bereitsteht. Zum Interview bringt er einen Freund mit; Tony sei ein guter Junge, sagt der gleich ungefragt, ohne dass klar wäre, wer er ist. Die wahren Mafiosi, so der Freund weiter, seien die Politiker, die es Tony verbieten, ein normales Leben zu führen. "Ich habe nichts verbrochen, außer die Tochter Riinas zu heiraten", ergänzt Ciavarello, der zuckerfreien Eistee bestellt. Keines der Getränke, die er während des einstündigen Gesprächs am Tisch konsumiert, bezahlt er. Ein souveräner Blick Ciavarellos zum Mann hinter dem Tresen genügt, und auch der Versuch des Besuchers, wenigstens seine Zeche zu begleichen, scheitert. "Ich regle das mit Tony", sagt der Kassierer standhaft.
Als Ciavarello die Tochter des Paten erstmals zum Sonntagsspaziergang ausführen durfte, wusste er, dass dies Konsequenzen haben würde. Nicht nur die Blicke der famiglia weiß er seither auf sich gerichtet, sondern auch die der Polizei. Ciavarello studierte am Musikkonservatorium in Palermo und war der Einzige seiner Klasse, der eine persönliche "Eskorte" besaß - immer zwei Zivilfahnder im Gleichschritt mit ihm. Inzwischen hat Tony die Trompete an den Nagel gehängt. Er arbeitete als Gelegenheitsmechaniker und ließ sich zum Informatiker ausbilden.
Vor zwei Jahren hat er mit Schwager Giuseppe Riina, dem jüngeren von Totòs zwei Söhnen, ein Ersatzteillager für Traktoren in Corleone übernommen. Das Geschäft lief ganz ordentlich, bis die Handelskammer Anfang dieses Jahres den beiden Jungunternehmern die Lizenz entzog. Sie hätten ein Antimafiazertifikat vorweisen müssen, das ihnen die Behörden verweigerten.
Der Grund für die Ablehnung ist im letzten Semesterbericht der nationalen Antimafiabehörde DIA nachzulesen, der im Dezember 2001 der parlamentarischen Sicherheitskommission zur Prüfung vorgelegt wurde. "Die Mafia", steht darin, "setzt seit geraumer Zeit auf eine neue Strategie. Ziel ist es, die totale Unsichtbarkeit der Organisation zu erreichen. Keine Gewaltakte, die Aufsehen erregen. Kein Verhalten, dass Verdacht schöpfen lässt." Um diese Strategie zu verfolgen, hält der Bericht fest, umgebe sich die Mafia immer häufiger mit Leuten, die von den Sicherheitsorganen nicht erfasst werden, weil sie in keinem Strafregister aufgeführt seien. "Diese Strohmänner sind meistens gebildet, haben beste Kenntnisse der modernen Technologie, führen ein unauffälliges Leben", heißt es weiter. Ganz normale Leute also. Leute wie Antonio Ciavarello.
Drei Jahre lang wurde Ciavarello von der Staatsanwaltschaft in Palermo unter Hausarrest gestellt. Er durfte morgens nicht früher als um sieben aus dem Haus und abends nicht später als um acht wieder zurückkehren. Bei jedem Ortswechsel musste er die Polizei benachrichtigen. Die Behörden waren sich sicher, dass er als Postbote Informationen an untergetauchte Mafiamitglieder der Riina-Familie weiterleiten würde. Deshalb griffen sie zu dieser Präventivmassnahme, die rechtlich gesehen zweifelhaft ist, die aber die italienischen Antimafiagesetze durchaus zulassen.
Nichts haben die Fahnder entdeckt. Auch die Wanzen, die sie in Ciavarellos Auto, in seiner Wohnung und im Black & White-Pub installierten, brachten nichts. Bei Ciavarellos Vermählung waren die Beamten mit Kameras und Mikrofonen dabei - es war das erste Mal, dass die Familie eines Mafiapaten eine Hochzeit öffentlich feierte.
An jenem 6. September letzten Jahres, als in der Dorfkirche zu Corleone Antonio Ciavarello der Tochter des Paten das Jawort gab, fehlte neben Schwiegerpapa Riina auch Giovanni, sein älterer Schwager. Schon mit 18 war er straffällig geworden: Schlägereien, Erpressung, Hehlerei. Heute ist er 25 und sitzt eine lebenslängliche Haftstrafe ab. Knapp 20 war Giovanni, als er seinen ersten Mord verübte. Den Körper des Opfers löste er in Säure auf. Die anderen drei Morde hat er "nur" in Auftrag gegeben. Beim Prozess plädierte sein Anwalt deshalb für Strafmilderung - ohne Erfolg. Vor drei Monaten entsprach das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft und sperrte Giovanni für den Rest seines Lebens weg.
Die Zeit der großen Ballerei ist in Corleone vorbei. Zwischen 1943 und 1961 wurden noch 52 Morde begangen und eine unbestimmte Anzahl Verbrechen, die als lupara bianca bezeichnet werden, als "weiße Schrotflinten". Das sind Morde, bei denen die Leiche nie gefunden wird. Dem Dorf brachte es den Beinamen Tombstone (Grabstein) ein, und den Hollywood-Regisseuren und Mafiaromanciers lieferte der Ort farbige Vorlagen. Heute ist Corleone, das man von Palermo aus über eine gewundene Landstraße in einer halben Stunde erreicht, zumindest dem Anschein nach ein Dorf wie jedes andere. In den Vitrinen der Geschäfte liegen die neuesten Gucci-Brillen, und die Buchhandlung an der Piazza legt selbstbewusst Bücher zur Mafia aus. Nur hinter der Fassade stimmt die Idylle nicht. Jedes Haus, bestätigen Fahnder hinter vorgehaltener Hand, ist direkt mit dem Polizeikommando verkabelt - es gibt hier mehr Wanzen als Menschen.
"Die Mafia ist ein historisches Phänomen, das einen Anfang hat, eine Entwicklung und ein Ende. Heute sind wir fast am Ende angelangt." Mit diesen Worten eröffnete UN-Vizegeneralsekretär Pino Arlacchi im Dezember 2000 den UN-Kongress zur Organisierten Kriminalität in Palermo. Am Tag nach seiner Rede korrigierte er sich. Die Mafia sei vorübergehend inaktiv, könne aber jederzeit wieder aufblühen. Einen weiteren Tag später korrigierte er sich abermals. Die Mafia habe gar nie aufgehört zu existieren, sondern sei lediglich ruhiger geworden. Inzwischen hat Arlacchi sein UN-Mandat abgegeben, und der Streit um die wahre Natur der Mafia ist seither nicht abgeklungen. Für die einen ist die Ruhe ein klares Zeichen für die Krise, in der sich die Mafia befindet. Für die anderen bedeutet es das Gegenteil: Die Mafia hat gemerkt, dass sie auf Samtpfoten mehr erreicht als mit Dynamitstangen.
Für Palermos Oberstaatsanwalt Piero Grasso steht fest: "Die Mafia fühlt sich heute stark wie nie. Sie muss nicht mehr zur Gewalt greifen, um ihre Geschäfte zu tätigen." Die neue Mafia besinne sich, paradoxerweise, auf alte Werte: Sie verschwinde vordergründig aus dem öffentlichen Leben, weil sie gemerkt habe, dass die großen Attentate vor allem ihr selbst geschadet haben. Der Wille der Bevölkerung, sich gegen die Mafia aufzulehnen, sagt Grasso, sei nie so groß gewesen wie nach der Ermordung der beiden Richter Falcone und Borsellino vor zehn Jahren. "Heute erleben wir eine Rückkehr zur Antike, ein Revival der alten Strategien, der alten Denkmuster, des alten Verhaltenscodex: Infiltrieren und koexistieren statt von draußen den Staat und die Gesellschaft frontal zu bekämpfen - so lautet das Losungswort des neuen Jahrtausends."
Keiner verdeutlicht diesen Wandel besser als Bernardo Provenzano. Das mag erstaunen, Provenzano ist 69 Jahre alt. Seit der Verhaftung Riinas 1993 ist er die Nummer eins der sizilianischen Mafia. Wie Riina gehört er der alten Garde an, wie dieser stammt er aus Corleone.
Im Gegensatz zu Riina hat er aber dazugelernt, gilt heute als moderat, soweit dies in der Cosa Nostra möglich ist. In den fünfziger Jahren war er ein zuverlässiger Killer, der sich mit seiner Skrupellosigkeit beim Mafiaclan von Luciano Liggio Ruhm und Respekt verschafft hatte. Provenzano wurde "'u tratturi" genannt, weil er wie ein Traktor funktionierte. Kein Hindernis, das ihn aufhielt, kein Pflaster, auf das er sich nicht wagte. Sein letzter Mordanschlag, der aktenkundig ist, reicht fast vierzig Jahre zurück. Seither ist der Traktor erfolgreich auf der Flucht - selbst für italienische Verhältnisse ein Rekord.
An jenem 9. Mai 1963, als er das letzte Mal öffentlich gesehen wurde, sollte Provenzano im Auftrag Liggios ein Mitglied des rivalisierenden Navarra-Clans umbringen. Der Anschlag misslang. Vier Monate später starb der Mann bei einem anderen Anschlag. Die Fahndung konzentrierte sich auf Provenzano. Obwohl er in den folgenden Jahren heiratete, zwei Kinder zeugte, die in einem öffentlichen Spital zur Welt kamen und beim Geburtenregister in Corleone ordnungsgemäß eingeschrieben wurden, fehlt von Provenzano bis heute jede Spur. Das letzte Fahndungsfoto stammt aus dem Jahre 1959. Selbst sein Bruder Sergio, der seit über dreißig Jahren in Nordrhein-Westfalen lebt, behauptet, er würde ihn nicht mehr erkennen. "Ich habe ihn nie mehr gesehen, seit ich Sizilien verlassen habe."
Zur Silvesterparty waren Provenzanos Frau und ihre beiden erwachsenen Kinder aus Corleone angereist. Eingeschleuste Spitzel hatten zuvor gemeldet, auch der Traktor wolle nach Deutschland kommen. "Gesetzt den Fall, dass er sich nicht als Tischbombe verkleidet hat", erklärte einer der italienischen Untersuchungsrichter später lakonisch, "haben wir nicht den geringsten Hinweis gefunden, dass Bernardo Provenzano sich bei seinem Bruder aufgehalten hätte." Nicht wenige sahen sich in ihrer Überzeugung bestätigt, dass der flüchtige Mafiaboss gar nicht mehr lebt und der Mafia wie auch manch korruptem Politiker als Alibi diene, um die Fahndungen in die falsche Richtung zu leiten. Der ehemalige Pate Tommaso Buscetta, der große Kronzeuge bei den Maxiprozessen von 1986, erklärte schon vor Jahren: "Ich glaube nicht, dass der italienische Staat wirklich die Absicht hat, die Mafia zu bekämpfen."
Immer wieder haben sich die verschiedenen Sicherheitsorgane, die sich um die Mafia kümmern, selbst bekriegt, was Buscettas Verdacht bestärkt. Es gab Suspendierungen vom Dienst, mysteriöse Todesfälle von Informanten und manch undurchsichtiges Veto aus dem Innenministerium. Zuletzt sorgte ziemlich genau vor einem Jahr die Verhaftung Benedetto Speras für interne Querelen. Dieses Mal war es die Spezialeinheit der Polizei, DIA, die Provenzano auf den Fersen war. Als die Agenten das Bauernhaus in Mezzojusto bei Corleone stürmten, waren neben Spera, der rechten Hand des Paten, zwei weitere hochkarätige Mafiosi anwesend. Nur der Chef selber fehlte. Die Carabinieri-Einheit ROS beschuldigte ihre Kollegen von der Polizei, ihnen mit der überhasteten Aktion monatelange Arbeit vermasselt zu haben. Innenminister Enzo Biano musste abermals als Schlichter intervenieren. Immerhin konnten die Fahnder neben der Verhaftung der drei flüchtigen Mafiosi verschiedene Briefe sicherstellen, die für Provenzano bestimmt waren.
Die Briefe hatten Provenzanos Ehefrau Saveria sowie der ältere Sohn Angelo geschrieben. Während sich die Frau des Paten um die Gesundheit ihres an den Nieren schwer erkrankten Gatten kümmerte und ihn ermahnte, "immer warme Wollsocken zu tragen", erläuterte Angelo verschiedene Investitionen, die er tätigen wollte. "Wenn du einverstanden bist, rede ich mit 512151522 191212154 darüber." Die ältere Mafia-Generation sprach bei ihren verschlüsselten Gesprächen von "Filet" und "Hammelkeule"; der Nachwuchs verwendet schlichte Zahlenkombinationen. Als erste Reaktion auf die Briefe wurde der Familie Provenzano die Wäscherei geschlossen, die sie im Zentrum Corleones, gleich neben dem Polizeikommando, betrieb. Nach Erkenntnissen der Behörden sollen dort nicht nur Leinentücher und Bettlaken gewaschen worden sein. Wer hinter den Zahlenkombinationen steckt, bleibt allerdings ein Rätsel.
Mitte Januar dieses Jahres schließlich nahm die Squadra Mobile in Palermo 28 Personen fest, die, so die Staatsanwaltschaft, zum engeren Kreis von Provenzano gehören. Alle Verhafteten haben einen tadellosen Leumund. Der eine besitzt die Autofahrschule Primavera im Zentrum der Stadt, ein anderer ist Krankenpfleger im städtischen Spital, eine Dritte arbeitet als selbstständige Anwältin, deren Vater pensionierter Vermessungsingenieur des nationalen Straßenamtes Anas und deren Mutter Hausfrau ist. Die mamma war es auch, die durch eine Unachtsamkeit die Verhaftungswelle auslöste. Zermürbt von der ständigen Angst, entdeckt zu werden, sprach sie zu ihrem Ehegatten, ohne zu wissen, dass sie abgehört wurde: "Wenn Santa Barbera ein Mann mit Eiern wäre, würde sie sich der Polizei stellen. Sie hat nichts mehr zu verlieren, sie liegt im Sterben. Damit würde sie viele Familienväter entlasten, die durch sie in Gefahr sind."
Santa Barbera ist einer der Codenamen für Provenzano. Der pensionierte Ingenieur Pino Lipari hat über Jahre für den Paten die so genannten appalti kontrolliert, die Vergabe öffentlicher Bauaufträge. Das System ist so einfach wie effizient: Beteiligt ist ein Softwarespezialist, der die Ausschreibung manipuliert, ein Postbeamter, der die eingeschriebenen Briefe zurückhält, ein Funktionär, der das "richtige" Anforderungsprofil definiert - am Ende sind nur Bauunternehmen in der Auswahl, die mit der Mafia zusammenarbeiten. Die Provision beträgt 30 Prozent des Auftragsvolumens. Um den Verlust zu kompensieren, werden die Rechnungen aufgeblasen und erstklassige Preise für drittklassige Qualität bezahlt. Zement, Eisen, Stahl kaufen diese Bauunternehmen bei Firmen, die ebenfalls von der Mafia kontrolliert werden.
"Ich habe oft mit irritierender Bewunderung und Neid feststellen müssen", schrieb Richter Giovanni Falcone kurz vor seiner Ermordung, "wie ungemein funktional und effizient die Ehrenwerte Gesellschaft im Vergleich zu unserem Staat funktioniert." Zwischen 1988 und 1998 ging über die Hälfte der gesamten Unterhaltsarbeiten für Siziliens Straßen an die Mafia. Die A 19 von Palermo nach Catania und die A 29 von Palermo nach Trapani wurden komplett von ihr gebaut. In den nächsten Jahren will Rom fünf Milliarden Euro in Siziliens Infrastruktur investieren, und die Agenda 2000 verspricht weitere Geldströme aus der EUKasse. Provenzano, den sie inzwischen auch Buchhalter nennen, hat klare Order durchgegeben: Abtauchen und ruhig bleiben. Die so genannte legale Mafia muss alles vermeiden, was die Öffentlichkeit aufschreckt und den Staat zur Repression zwingt.
Und auch der Staat scheint sich mit der Mafia zu arrangieren. Im August vergangenen Jahres erklärte Pietro Lunardi, Italiens Minister für Infrastrukturen: "Wir müssen mit der Mafia zusammenleben." Viele sahen in dieser Aussage die Absicht der Regierung Berlusconi, den Kampf gegen die Mafia aufzugeben. Lunardi selbst erklärte einer empörten Öffentlichkeit, dass er nicht zynisch sein wollte, sondern ehrlich. Es stellte sich heraus, dass sogar der Bau der modernen Glas-Stahl-Konstruktion in Palermo, in welcher die Uno über die Mafia beriet, von ebendieser kontrolliert worden war. Und nicht nur dies. Von Anwaltsprüfungen über die Zulassung an Universitäten und Spitälern bis zur Einstellung von Theaterkomparsen hat die Cosa Nostra alles in der Hand. Das Teatro Greco in Syrakus konnte bis zum April letzten Jahres, als die Polizei den Vorhang zog, keine Glühbirne kaufen ohne das Einverständnis der Paten. Die Maskenbildner, die Hostessen, die Parkwächter, die Putzequipe - alles wurde von der Ehrenwerten Gesellschaft organisiert. Selbst die Kissen, auf die sich die Gäste setzten, um den Hexametern Ovids zu lauschen.
Den größten Erfolg hat die Mafia gegenwärtig mit einem neuen Geschäftsbereich. Nicht mehr die klassischen Wirtschaftszweige wie Drogenhandel, Waffenschieberei und Menschenschmuggel allein, sondern die so genannte Ecomafia bringt Geld: illegale Mülldeponien, der Transport hoch toxischer Abfälle und der Handel mit nichtgenormten oder verbotenen Baumaterialien. Während eines abgehörten Gesprächs zwischen zwei Mafiosi fällt der sinnige Satz: "Trasi munnizza e nasci oro" - "Aus Abfall wird Gold". Dazu kam in den letzten Jahren noch der illegale Handel mit exotischen Tieren und geraubten Kunstgegenständen. Von 1996 bis 2000 betrug das geschätzte Handelsvolumen dieser neuen Aktivitäten, an denen die sizilianische Mafia maßgeblich beteiligt ist, 60 Milliarden Euro.
"Der ständige Wandel ist die eigentliche Konstante der Mafia", sagt Umberto Santino, der sich seit 30 Jahren mit den sozialen und ökonomischen Metamorphosen der Cosa Nostra beschäftigt. Zusammen mit seiner Frau führt Santino in Palermo das Centro Impastato, das größte Privatarchiv zum Thema Mafia. Der Name des Archivs stammt von Giuseppe "Peppino" Impastato, dem Sohn eines Mafioso und Enkel eines Paten. Peppino Impastato wollte beweisen, dass es auch anders geht. Er hatte sich von seinem Umfeld emanzipiert und in Cinisi, seinem Heimatdorf, mit der Ehrenwerten Gesellschaft angelegt - zuerst via Privatradio, dann mit Flugblättern und Umzügen. Für die linksradikale Partei Democrazia Proletaria kandidierte Pippino fürs Regionalparlament, um den Kampf gegen die Mafia innerhalb der Institutionen weiterzuführen, und wurde am 9. Mai 1978 auf Befehl seines Onkels Tano Badalamenti umgebracht.
"Der Name Impastato ist Programm", sagt Umberto Santino. Die Wandregale in seinem Arbeitszimmer quellen über von Büchern über die Mafia und Antimafia; einige dieser Werke hat er selber verfasst. Obwohl er als unbestrittener Fachmann gilt, hat Santino Mühe, Verleger und Sponsoren zu finden. Das Dokumentationszentrum Impastato finanziert sich durch die freiwilligen Beiträge von rund hundert Gönnern. Von der öffentlichen Hand hat er bis heute keine Unterstützung bekommen. "Ich bin keiner für Cocktailpartys", sagt er. Wer sich die Zeit nimmt, seine Bücher zu lesen, wird merken, dass es wohl kaum jemanden gibt, der so detailliert Bescheid weiß über die Mafia wie Santino. Aber vermutlich auch keinen, der so rigide und unversöhnliche Positionen vertritt wie er. "Wahrheiten kann man verdrehen, Fakten nicht", sagt Santino. Wenn man der Mafia heute den Puls fühlen wolle, sagt er weiter, müsse man mehr denn je den Politikern auf die Finger schauen, vor allem Regierungschef Berlusconi. Der habe den Italienern während des Wahlkampfs das Paradies versprochen - geschaffen habe er ein Paradies nur für Mafiosi. Das sei, so Santino, keine Meinung, sondern Tatsache. "Was heute in Italien geschieht, ist die Legalisierung der Illegalität." Die Attacken der Regierung auf die Justiz, die Einführung neuer Gesetze, die den illegalen Geldtransfer ins Ausland unter Amnestie stellen und Bilanzfälschung nur noch als einfaches Vergehen ahnden, sowie die Erschwerung der internationalen Rechtshilfe legten einen Humus, auf dem sich in erster Linie das Organisierte Verbrechen wohlfühle: "Der ethische Standard ist mit Berlusconi klar nach unten gedrückt worden."
Das innige Verhältnis zwischen Mafia und Politik ist nicht neu. Heute aber wird dieses Verhältnis weniger durch Interaktion als vielmehr durch Vereinnahmung bestimmt - die Mafia bekämpft den Staat nicht mehr, sondern geht in ihm auf. Die Regierung ihrerseits bewegt sich inzwischen so, dass sie der Mafia nicht mehr in die Quere kommt. Es scheint eine Art unausgesprochenes Gentlemen's Agreement zu sein: Du lässt mich machen, dafür lasse ich dich in Ruhe. Die neue Mafia hat die alte dabei nicht etwa ersetzt, sondern diese hierarchisch überholt, oben die neue, unten die alte, wobei das Ziel dasselbe bleibt: der absolute Vorrang des Eigeninteresses vor dem Gemeinwohl. Genau das also, was die Regierung um Premier Berlusconi der Bevölkerung bisher vorgelebt habe, wie der ehemalige Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, meint. Die moderne Mafia sei weniger gewalttätig als die alte, dafür aber schwieriger zu bekämpfen.
Umberto Santino teilt Orlandos Einschätzung, auch wenn er den Politikern, ob von rechts oder links, grundsätzlich misstraut. Viele Legendenbildungen seien, abgesehen von den Medien, den professionisti dell'antimafia zu verdanken, den Berufspolitikern der Antimafia. Den Ausdruck hatte der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia erstmals in den achtziger Jahren verwendet und damit eine hitzige Debatte über die rechtschaffenen Absichten der Antimafiapolitiker ausgelöst. Gemäß Sciascia, der mit Mafiaromanen wie Il giorno della civetta(Der Tag der Eule) und A ciascuno il suo(Jedem das Seine) internationalen Ruhm erlangte, verfolgten die selbst ernannten Kämpfer wider das Unrecht in erster Linie nicht das Ziel, die Mafia zu entlarven, sondern sich selbst ins Rampenlicht zu rücken.
Neben den Wunden, die diese Polemik in den Reihen der Antimafia nach Sciascias Tod hinterließ, blieben viele Fragen zurück, auf die das heterogene Volk der Antimafiakämpfer nach wie vor Antworten sucht: Was ist die Mafia? Wie funktioniert sie? Vor allem: Wie ist sie zu bekämpfen? Für Santino, den Forscher, steht unzweifelhaft fest, dass das größte Pfund der Mafia die Ignoranz der Menschen ist. "Nur Aufklärung und Informationen können den Mythos der Cosa Nostra und somit die Mafia selbst zerstören", sagt Santino. Die Geschichte der Antimafia sei von verklärten Bildern geprägt, von Halbwahrheiten und Erfundenem. Im Bewusstsein vieler ist die Antimafiabewegung eine neue Erscheinung, die spätestens nach den Anschlägen von 1992 auf Falcone und Borsellino richtig aktiv geworden ist. Doch das, sagt Santino, seien alles Kleinigkeiten im Vergleich zu den großen Bauernaufständen Ende des 19. Jahrhunderts, den fasci siciliani, als sich Hunderttausende auflehnten und über Jahre hinweg dem mafiosen Landadel Paroli boten. Für das Selbstbewusstsein der jungen Generation sei diese historische Erkenntnis fundamental. "Sizilien", meint Santino, "ist nicht nur Mafia. So alt wie die Ehrenwerte Gesellschaft ist auch die andere Gesellschaft, die ehrliche, die unsere."
War der Staat wirklich daran interessiert, die Paten zu fangen, hat er wirklich alles darangesetzt? Als am 19. Juli 1992 an der Via D'Amelio in Palermo eine Autobombe explodiert, die ihren Bruder, den Richter Paolo Borsellino, und fünf seiner Leibwächter tötet sowie vier Wohnblocks niederreißt, weilt Rita Borsellino auf dem Land. "Ich habe mich bis zu diesem Zeitpunkt nur um meine Kinder und meine Arbeit gekümmert", sagt die gelernte Apothekerin. Die Nachbarn informieren sie über den tragischen Vorfall. Ihr Bruder wollte an diesem Tag noch schnell der Mutter einen Besuch abstatten. Immer weniger fand er Gelegenheit dazu. Knapp zwei Monate zuvor war Richter Giovanni Falcone umgebracht worden. Ihm bleibe nicht mehr viel Zeit, hat Richter Borsellino seiner Schwester Rita nach dem Tod des Kollegen Falcone mit sicherem Instinkt vorhergesagt.
"Paolo arbeitete wie ein Wahnsinniger", erinnert sich Rita Borsellino. Er habe noch möglichst viel erledigen wollen, bevor sich die Mafia auch ihn holen würde. Sie habe aber nie gedacht, dass es so schnell passieren könnte. Ganz im Gegensatz zu den beiden ermordeten Richtern, die ihrem Schicksal mit Sarkasmus entgegensahen. Wenige Monate vor seinem Tod gab Giovanni Falcone dem Journalisten Marcelle Padovani ein ausführliches Interview, in welchem er folgende Anekdote erzählt: "Eines Abends kommt Borsellino zu mir nach Hause und sagt: Giovanni, du musst mir unbedingt die Zahlenkombination deines Safes geben. Ich frage, wieso? Damit ich das Schließfach aufmachen kann, wenn sie dich umbringen." Das Interview, in Buchform erschienen, schließt mit dem Satz: "In Sizilien bringt die Mafia die Diener des Staates um, die dieser Staat nicht zu schützen imstande war."
Rita Borsellino hat lange über diesen Satz von Falcone nachgedacht und gemerkt, dass er so nicht stimmt. "Der Staat hat gar nie versucht, seine Diener zu schützen, weil er es nicht wollte", sagt sie. Wie sonst sei es zu erklären, dass der Oberpate Totò Riina, seit 25 Jahren auf der Flucht, nur wenige Monate nach den von ihm in Auftrag gegebenen Attentaten auf die Richter Falcone und Borsellino plötzlich geschnappt wird? Heute ist Rita Borsellino eine führende Aktivistin im Kampf gegen die Mafia. Ihre Apotheke, wo sie zum Gespräch geladen hat, ist ein Nebenerwerb geworden. Sie redet mit ruhiger Stimme, aber dezidiert und hart. Zwischen Schachteln von Antibiotika und homöopathischen Heuschnupfenmitteln sagt sie Worte, die nicht zu ihrem sanften Gesicht passen wollen: "Sie haben meinen Bruder umgebracht, aber nicht seine Ideale." Sie nähre keinen Hass gegenüber den Killern, sondern fühle Mitleid für Menschen, die derart tief gefallen sind: "Der Hass schaltet den Kopf aus. Um die Mafia zu bekämpfen, braucht es ihn aber ganz besonders."
Fast zeitgleich mit Rita Borsellino hat eine zweite Frau, Maria Maniscalo den Kampf gegen die Mafia aufgenommen, allerdings aus politischer Überzeugung. Seit 1993 ist die Sozialdemokratin Bürgermeisterin in San Giuseppe Jato, dem Heimatdorf von Giovanni Brusca und anderen Mafiapaten. 184 Mafiafamilien gibt es in Sizilien offiziell, denen insgesamt 3201 Ehrenmänner angehören. 172 dieser Mafiosi stammen alleine aus diesem Dorf hinter den Hügeln Palermos. Das sagen die Statistiken. Die Bürgermeisterin sagt: "Die Zahlen sind Unsinn. Es geht nicht um Ziffern, sondern um Mentalität."
In den siebziger Jahren hat der deutsche Soziologe Heiner Hess die These aufgestellt, bei der Mafia handele es sich mehr um eine Lebenseinstellung als um eine Organisation. Heute ist diese These überholt. Die Mafia ist eine international tätige Holding mit klarer Hierarchie und festen Strukturen.
Der letzte Semesterbericht der DIA für die parlamentarische Sicherheitskommission gibt klare Auskünfte über die Wandlung der archaischen Mafia zur Elite-Organisation. Immer häufiger, heißt es dort, werden Elemente im Umkreis der Ehrenwerten Gesellschaft lokalisiert, die einen Universitätsabschluss besitzen und eine langjährige erfolgreiche Berufskarriere hinter sich haben. Oft treten diese Kaderleute selbst in den Rang von Paten, was vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Die so genannten colletti bianchi, die Mafiosi im Anzug, können jahrelang miteinander kommunizieren, ohne sich je zu sehen. Der rituelle Kuss der Mafiosi ist Geschichte. Die Piazza als Treffpunkt existiert nicht mehr. Heute ist die Piazza virtuell, und die Bügelfalten-Mafiosi sind online miteinander verbunden. Der eine sitzt in Palermo, der andere in Frankfurt oder Zürich.
Die Bürgermeisterin von San Giuseppe Jato sieht es anders. "Nur in einem entsprechenden soziokulturellen Kontext", sagt Maria Maniscalo und rückt ihre feine Brille dezent zurecht, "kann eine solche Organisation überhaupt funktionieren." Die scheinbar überholten Thesen des deutschen Soziologen Heiner Hess über die Mafia als Lebenseinstellung stimmen ihrer Ansicht nach im Grundsatz eben doch. "Die Menschen müssen merken, dass es sich lohnt, für ihr Recht einzustehen, ohne dabei das Leben zu riskieren." Wie schwierig das ist, hat sie selber erfahren. Die Aktenberge auf ihrem Mahagonitisch, die in rotes Leder gefassten Gesetzesbücher in den Vitrinen hinter ihrem Rücken, die italienische und europäische Flagge rechts und links von ihrem Pult - alles scheint eine Nummer zu groß zu sein für die 55-jährige Juristin. Ihre Brille aus feinem Horn, ihr kariertes Deuxpièces, ihre perfekt gepflegten Hände - so dezent modisch sie aussieht, so fragil erscheint sie im Kampf gegen das Verbrechen. Doch der Eindruck täuscht.
Alles haben die Onkel und Paten in den letzten Jahren versucht, um ihren Willen zu brechen. Maria Maniscalo hat sich nie beugen lassen. Eines Nachts wurde ihr Auto verbrannt, sie und ihr Ehemann bekamen Morddrohungen. Nachdem in San Giuseppe Jato sowohl in der Schule als auch im Lebensmittelladen Bombendrohungen für Massenpanik sorgten, hat sich die Bevölkerung langsam von ihr abgewandt. Alles sei nur ihre Schuld, wurde hinter vorgehaltener Hand gelästert. Wäre sie nicht so starrköpfig, heißt es im Dorf, ginge es auch den Bewohnern von San Giuseppe Jato besser. "Heute versuchen viele meiner Wähler, mir aus dem Weg zu gehen aus Angst, mit mir gesehen zu werden." Eine Haltung, die sie verstehen kann, aber dennoch als feige verurteilt.
Angst um ihr Leben hat die Bürgermeisterin nicht. Sie weiß, dass die Strategie der Mafia heute eine subtilere ist. Der Gegner wird nicht physisch eliminiert, sondern sozial isoliert. Dass man sie auf anonymen Plakaten als Dorfnutte bezeichnet, sei das geringste Übel. Härter seien die Versuche des Rufmords an ihr und ihrer Familie. Ihr Ehemann Mimmo Giannopolo, ebenfalls Sozialdemokrat, ist Bürgermeister von Caltavuturo, einem Nachbardorf von San Giuseppe Jato. Letztes Jahr beschuldigte ihn ein mit der Polizei kollaborierender Mafioso, mit der Ehrenwerten Gesellschaft zusammenzuarbeiten. Maria Maniscalo weiß, dass dies nicht stimmt. Und auch viele Bürger von Caltavuturo wissen es. Mimmo Giannopolo hat sich während seiner Amtszeit durch einen rigorosen Kurs gegen die Mafia profiliert. Allein der Zweifel aber, dass er vielleicht doch übergelaufen sein könnte, ist sein und auch ihr politischer Tod und beider soziale Isolation.
Das Mandat von Bürgermeisterin Maria Maniscalo läuft kommenden Mai definitiv ab. Sie kann sich nicht mehr zur Wiederwahl stellen. Könnte sie es doch, davon ist sie überzeugt, würde sie in der jetzigen Situation chancenlos bleiben. Leute wie sie sind nicht mehr beliebt. "Der Wille, sich aufzulehnen, hat in den letzten Jahren deutlich nachgelassen", sagt sie. Der Staat lasse im Kampf gegen die Cosa Nostra die Zügel schleifen, der Bürger habe resigniert. Und doch scheint die Hoffnung nicht ganz verflogen zu sein, wie gerade das Beispiel der Kooperativen in San Giuseppe Jato und anderen fünf Gemeinden, darunter Corleone, zeigt. Auf Initiative von Rita Borsellino wurden im Juli 1995 Unterschriften gesammelt für ein Gesetz, das die kostenlose Nutzung konfiszierter Mafiagüter verlangt. Das Gesetz kam zustande, und 175 Hektar Land stehen heute verschiedenen Kooperationen kostenlos zur Verfügung.
Antimafia heißt vor allem Perspektiven bieten und Arbeitsplätze garantieren. Das Ziel der Kooperativen ist es, dereinst einen Agrotourismus anzubieten. Der Weg dorthin ist nicht einfach. Als die erste Pachtübergabe konfiszierter Mafiagüter bekannt wurde, zerstörten in derselben Nacht Unbekannte den ganzen Baumbestand des betreffenden Gutes. 270 Olivenbäume wurden mit Motorsägen gefällt. Finanziell fällt der Schaden nicht ins Gewicht: Zwischen 1992 und 2000 wurden in Italien illegal erworbene Grundstücke im Gesamtwert von 1,5 Milliarden Euro konfisziert. Die Paten werden deshalb nicht verarmen. So modern und diversifiziert die neue Mafia heute auch arbeitet, ihre einträglichste Einnahmequelle ist die alte geblieben.
Die Erpressung von Schutzgeldern betraf von 1995 bis 1999 insgesamt 140 000 Unternehmer und Kaufleute, die zusammen zwei Milliarden Euro bezahlten. Damit ist der Verlust durch die konfiszierten Güter mehr als kompensiert. Und wer die Schutzgelder nicht zahlen kann, wer sich verschuldet hat oder große illegale Investitionen plant, taucht in die Unterwelt ab und nimmt Geld auf zu Bedingungen, die die Mafia diktiert. 700 000 Personen, rechnet die Finanzpolizei für denselben Zeitraum vor, sind "Opfer" von Wucherern geworden. Der Organisierten Kriminalität brachte es 23 Milliarden Euro in die Kassen.
Die Mafia ist in Sizilien heute vordergründig nicht mehr zu spüren. Man sieht sie nicht, man hört sie nicht. Palermo, vor zehn Jahren im Belagerungszustand, ist heute eine blühende Stadt mit Straßencafés und vielfältigem Kulturangebot. "Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich eine Zeit voraussage, in welcher alle Strukturen des Kampfes gegen die Mafia aufgelöst werden", resümiert Oberstaatsanwalt Piero Grasso, der in jener "doppelten Realität" die eigentliche Gefahr für die Zukunft sieht: "Man wird auf das Ende des kriminellen Notstandes anstoßen und den Sieg der Normalität bejubeln. Mit der Pax Mafiosa kann der Staat endlich das definitive Ende einer Epoche erklären; keine bewaffneten Eskorten mehr, keine Bunker, Metalldetektoren und gepanzerten Fahrzeuge. Die ungelösten Rätsel werden ein für alle Mal begraben werden, und niemand wird merken, dass die Mafia noch existiert."
|
|
Auszug
aus: DIE ZEIT 17. Feb.
2002