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Jetzt steht dort, wo er zu Tode getreten wurde, sein Foto: ein Mann im Anzug, lächelnd, im Arm zwei Kinder, die nicht seine sind. »Für einen, der mutiger war als wir«, hat jemand dazugeschrieben.

Dominik Brunner
TOD EINES
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Dreißig Menschen stehen am Bahnsteig, umringt von Kamerateams, die Züge spucken Leute aus, die vor den Mikrofonen nach Worten suchen. Gabriel Sieben, dessen Schwester Brunners beste Freundin war, erzählt einem Reporter, Dominik Brunner sei jemand gewesen, der keine Angst gehabt und auf die Kraft des Wortes vertraut habe. »Vielleicht hat er nicht mit diesem Potenzial an Aggression gerechnet.«



München ist schön. Münchner fühlen sich wohl in ihrer Stadt, das zeigen Umfragen. Doch es gibt andere Stimmen: Schon wieder München!, rufen sie. Und zählen auf, was schon alles geschehen ist.



Im Dezember 2007 prügeln ein Grieche und ein Türke einen Rentner in der U-Bahn-Station Arabellapark halb tot. Im Oktober 2008 zertrümmert ein Unbekannter am Bahnhof Giselastraße eine Sektflasche auf dem Kopf des Kioskverkäufers Orkan A. Ebenfalls an der Giselastraße werden im Oktober 2008 dem Fernmeldemonteur Josef K. Becken und Schulter kaputt geschlagen – er hat den Täter gebeten, nicht zu rauchen




















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Den Täter verwirren



Wie man Zivilcourage trainiert. Ein Interview mit dem Sozialpsychologen Kai J. Jonas von der Universität Amsterdam

DIE ZEIT: Herr Jonas, Sie bieten seit fast zehn Jahren Zivilcourage-Trainings an. Wer nimmt daran teil und was lernen die Teilnehmer?



Kai Jonas: Die Bandbreite der Teilnehmer reicht von Schülern bis hin zu Rentnerinnen. Die meisten kommen, wenn wieder einmal etwas Spektakuläres passiert ist – rechtsradikale Übergriffe etwa oder Gewalttaten wie jetzt in München. Viele Teilnehmer haben dann die Vorstellung, es ginge nur um dramatische, blutige Situationen. Aber der Fokus des Trainings verlagert sich meist sehr schnell auf eher kleinere, alltägliche Probleme – etwa rassistische Äußerungen im Bekanntenkreis, Mobbing am Arbeitsplatz und ähnliches. Denn diese Situationen sind viel häufiger und auch dort ist Zivilcourage gefordert.



ZEIT: Welche Menschen zeigen sich besonders couragiert, welche weniger?



Jonas: Zunächst sagen sehr viele, dass sie in Notsituationen eingreifen würden. Tatsächlich tun es aber dann sehr wenige. Das gilt insbesondere für diejenigen unter uns, die immer überzeugt sind, dass sie alles richtig machen, die "professionellen Gutmenschen".



ZEIT: Woher weiß man, ob man dazu gehört?



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Jonas: Um unsere Teilnehmer zu sensibilisieren, erzeugen wir in unseren Trainings anfangs eine künstliche Notsituation: Wir greifen einen Teilnehmer heraus und befragen ihn vor allen anderen, wir nehmen ihn regelrecht ins Kreuzverhör, ziemlich bohrend und unhöflich. Das ist für die Betreffenden eine sehr unangenehme Situation, sie werden hochrot, fangen an zu schwitzen. Was tun die anderen? Die meisten rutschen in ihren Stühlen zusammen, hören zu und tun nichts. Dann brechen wir die Situation ab und fragen: Was ist hier passiert?



ZEIT: Sie meinen: Eigentlich hätte einer der Anwesenden aufstehen und sagen müssen: So geht das doch nicht! So können Sie nicht mit uns reden.



Jonas: Genau. Die anderen hätten erkennen können, dass hier eine Notsituation entstanden ist, in der man hätte intervenieren können. Das passiert aber nicht. Manchmal hacken die Leute noch zusätzlich auf das »Opfer« ein. Schon dieses kleine Rollenspiel zeigt, wie schwer es vielen von uns fällt, eine Notsituation als solche zu erkennen und einzuschreiten – selbst wenn man meint, beste Absichten zu haben.



ZEIT: Und wenn man nun aktiv werden will, aber nicht genau weiß, wie?



Jonas: Zunächst ist es wichtig, sich nicht auf den Täter zu fokussieren, nicht die Konfrontation noch zu erhöhen. Eher sollte man versuchen, das Opfer aus der Situation heraus zu bringen. Denn in der Vielzahl der Fälle ist man nicht in der Lage, das Aggressionspotenzial eines Täters richtig einzuschätzen. Gerade Männer zum Beispiel gehen oft eher konfrontativ vor, sie greifen körperlich ein. In Rollenspielen greifen wir das im Training auf, denn das ist in vielen Fällen die falsche Reaktion. Besser sind sogenannte »paradoxe Interventionen«...



ZEIT: Zum Beispiel?



Jonas: Als »paradoxe Intervention« kann ich alles machen, was den Täter ablenkt, verwirrt und was mir ein kleines Fenster eröffnet, das Opfer aus der Situation herauszubringen. Ich kann zum Beispiel so tun, als ob ich das Opfer kenne und lange nicht mehr gesehen habe und mich nun unbedingt in ein Café mit ihm setzen möchte. Oder ich kann fragen: Wo ist der nächste Zigarettenautomat.



ZEIT: Das hieße, den Konflikt zu ignorieren?



Jonas: Man muss den Konflikt gar nicht aufgreifen, die Situation gar nicht zum Problem erklären sondern überlegen, wie man sie ohne Eskalation entschärft. Ein schönes Beispiel berichtete einmal ein älterer Herr in einem Training. Er saß in einem Regionalexpress, in dem Jugendliche Nazilieder grölten. Alle Mitreisenden waren empört, keiner wusste, was tun. Da stand der ältere Herr auf, ging zu den Jugendlichen hin, stellte sich freundlich vor und sagte: Er sei Ortsvorsitzender der NPD. Was sie hier täten, schade der Sache, sie sollten lieber still sein. Daraufhin war Ruhe im Abteil.



ZEIT: Clever!



Jonas: Ja. Das ist eine sehr kluge paradoxe Intervention. Solche Ideen kommen übrigens in unseren Trainings oft von Menschen, die eine eigene Opfererfahrung haben. Auch Behinderte sind häufig sensibel für Notsituationen und greifen eher ein, obwohl man ihnen zunächst weniger Handlungsmöglichkeiten zuschreiben würde. Sie verstehen es mitunter sehr gut, ihre eigene Schwäche in eine Stärke umzuwandeln. Schon allein darin liegt ein gewisses Überraschungsmoment.



ZEIT: Gibt es auch dafür konkrete Beispiele?



Jonas: In unseren Rollenspielen haben zum Beispiel Rollstuhlfahrer pöbelnde Jugendliche angesprochen, ob sie mit ihnen ein Wettrennen machen würden (bringt den Täter weg vom Opfer). Oder sie fragen einen über Ausländer herziehenden Mann, ob er – als "wertvoller Mensch" – ihnen aus der Straßenbahn helfen würde. Auch das sind kluge paradoxe Interventionen, die die Aufmerksamkeit von einem Konflikt weg lenken und dadurch das Magnetfeld zwischen Täter und Opfer aufbrechen.



ZEIT: Ganz ungefährlich sind allerdings auch solche »paradoxen Interventionen« nicht.



Jonas: Zivilcourage hat etwas mit Mut zu tun und auch mit Risiken. Es gibt keine »Zivilcourage light«. Aber man kann durch richtiges Verhalten die Risiken deutlich minimieren. Im Übrigen: Es ist auch gute Zivilcourage, nur ein sachdienlicher Zeuge zu sein oder die Polizei zu rufen. Es verlangt niemand von den Menschen, dass sie ihr eigenes Leben lassen.



ZEIT: Was gehört noch zum richtigen Verhalten?



Jonas: Wir üben in den Trainings, wie ich mir Verbündete suche; dass ich andere über mein geplantes Handeln informiere; dass ich Aufgaben verteile und Menschen direkt anspreche. Was man möglichst nicht tun sollte, ist, alleine den Helden spielen zu wollen.



ZEIT: Gilt das auch für den Fall in der Münchner S-Bahn? Hätte Herr Brunner anders reagieren können?



Jonas: Ich werde in diesen Tagen oft gefragt: »Hat Herr Brunner etwas falsch gemacht?« Mich ärgert diese Frage. Herr Brunner hat nichts falsch gemacht. Die Jugendlichen haben etwas falsch gemacht. Er war offenbar ein sehr mutiger Mann, der in Unkenntnis der Konsequenzen gehandelt hat. Aber das ist häufig so mit der Zivilcourage, auch wenn man sich historische Beispiele betrachtet. Viele, die couragiert eingreifen, überdenken nicht alle möglichen Konsequenzen, oder sie ignorieren die Gefahren für sich selbst. Ich kann Herrn Brunner nachträglich nicht kritisieren.



ZEIT: Vielfach wird nun, auch von Politikern, wieder mehr Zivilcourage gefordert. Hilft das?

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Jonas: Das ist so eine Sache. Das Lippenbekenntnis zur Zivilcourage bekommen sie von fast jedem. Aber die wenigsten wissen, wie sie im fraglichen Fall reagieren sollen.



Das Gespräch führte Ulrich Schnabel


















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Kritik des blinden, aberwitzigen

Mutes im Krieg

"Der Mensch ist bereit,
für jede Idee zu sterben,
vorausgesetzt,
daß ihm die Idee nicht ganz klar ist."
(Gilbert Keith Chesterton)










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1. Was ist der Preis für ZIVILCOURAGE?



In einem Blog-Beitrag mit dem Titel "ZIVILCOURAGE in Deutschland?" habe ich mich bereits zu dem Thema geäußert - allerdings aus der Sicht des Hobby-Historikers und meinen Erfahrungen mit dem Thema "OSKAR SCHINDLER in Deutschland".

Ich kann aufgrund meiner jahrelangen Beobachtungen bestätigen, dass wir in einer äußerst gewaltbereiten Gesellschaft leben, deren Ursachen ökonomischer Natur sind. Jahrelang musste ich mich in unserer Wohnanlage mit einem sehr brutalen, jungen Spätaussiedler auseinandersetzen. Als arbeitsloser Jugendlicher mietete er sich für seine Wochenend-Touren zu den Diskotheken der Umgebung grosse BMW und Mercedes. Regelmässig parkte er dann in der Feuerwehrauffahrt, wo dies verboten ist und behinderte dabei auch die anderen Mieter an der Ausfahrt. In unserem Wäschekeller wäre er beinahe handgreiflich geworden, wenn nicht seine Mutter eingeschritten wäre. Da diese Familie offenichtlich ihre Wohnung nicht mehr finanzieren konnte, sind sie kürzlich weggezogen. Bei all diesen Auseinandersetzungen rechnete ich auch damit, von seinen Kumpels nachts überfallen zu werden. Das hat man sich aber bei meiner Statur (1,8m Grösse, 95 kg) nun doch wohl nicht getraut.



Herzliche Grüsse



Klaus Metzger

HILDESHEIM

www.twitter.com/klmmetzger

www.talker.co.il/klmmetzger






















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5. So sieht es aus...



verweigerte Bildungsabschlüsse, Aussteigen, katastrophale Familien, Drogensucht statt Arbeit, Idole, die Tod androhen.... und das kommt dabei raus. Wir brauchen dringend ein sozialpsychiatrisches Auffangnetz in der Schule, bereits für die ersten Klassen. http://viereggtext.blogsp...















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»Besorgt es denen richtig!«, soll Christoph ihnen nachgerufen haben.

Brunner soll den Halbwüchsigen eine reingeschoben haben???

Er rief uns noch zu: ’Haltet Euch raus!’“ Als er einen der Jugendlichen mit einem Schlag empfangen habe, sei dieser „total ausgetickt“, sagte das Mädchen der Münchner "Abendzeitung“.

Einer der beiden Täter habe mit einem Schlüsselbund in der Hand auf Brunner eingeschlagen – zwei Schlüssel nach vorn gerichtet. Als der 50-Jährige am Boden gelegen habe, habe der Haupttäter mehrfach mit voller Wucht gegen dessen Kopf getreten.

Wir haben ’Helft uns!’ geschrien, aber die Leute sind vorbeigegangen“, schilderte Sarah weiter. „Nur am anderen Bahnsteig haben welche ’Aufhören!’ rübergeschrien.“ Nachdem die Täter endlich geflüchtet seien, sei Brunner noch einmal aufgestanden und habe etwas gemurmelt, was sie aber nicht verstanden habe.



Dann sei er zusammengebrochen. „Er hat für uns sein Leben gegeben. Ich danke ihm so sehr, dass er uns alle vier beschützt hat“, sagte die Realschülerin. „Ich werde ihn immer als Held in Gedanken behalten.“

Die schrecklichen Bilder vom S-Bahnhof Solln verfolgen die 13-Jährige bis in den Schlaf: „Ich wache dauernd auf, ich höre Stimmen. In meinem Zimmer schleicht ein Mann rum.“

Die Aussage des Mädchens könnte auch ein erster Hinweis auf unterlassene Hilfeleistung am Tatort sein.

»Vielleicht hat er nicht mit diesem Potenzial an Aggression gerechnet.«
















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http://blog.zeit.de/
joerglau/2009/
09/14/die-munchener
-s-bahn-schlager
_3011



Jugend ohne Zivilcourage?

Tödliche Prügelattacke

beschäftigt die Jugend

Ein 50-Jähriger wurde von zwei Jugendlichen totgeschlagen. Der Grund: Er zeigte Zivilcourage.



An diesem Wochenende kam es wieder einmal zu einer tödlichen Prügelattacke auf einen 50 Jahre alten Mann in der Münchner S-Bahn. Der Mann war mit vier Jugendlichen im Alter von 13 bis 15 Jahren aus dem Zug am Bahnhof Solln, nachdem diese von zwei jungen Männern zunehmend belästigt und erpresst wurden. „Belohnt“ wurde die Zivilcourage des 50-Jährigen durch tödliche Schläge der 17 und 18 Jahre alten Tatverdächtigen auf den Kopf. Seine Tapferkeit hat der Geschäftsmann mit seinem Leben bezahlt.

Wie kann es sein, dass sich ein Mensch vorbildlich verhält, Zivilcourage zeigt und dann aus Rache dafür von zwei aggressiven Jugendlichen getötet wird? Genau diese Frage hat sich auch die Staatsanwaltschaft in München gestellt – nun will sie mit aller Härte gegen die Tatverdächtigen vorgehen. Deswegen wurde auch die Diskussion erneut entfacht, die sich mit der Bestrafung von Jugendlichen auseinandersetzt: Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) bekräftigte erneut nach dem Fall die Forderung nach einer Einführung von Erwachsenenstrafrecht für 18-jährige Straftäter. Bis jetzt kann man in der Bundesrepublik Deutschland 18- bis 21-Jährige auch nach dem Jugendstrafrecht verurteilen. Dieses sieht weitaus mildere Strafen vor und berücksichtigt das „junge“ Alter der Mörder, Räuber oder Vergewaltiger. Gerade bei kleineren Delikten konzentriert sich das Jugendstrafrecht auf erzieherische Maßnahmen und weniger auf Bestrafungen wie Gefängnis. Außerdem sieht das Jugendstrafrecht keine Mindesthöhe der Strafe, sondern vielmehr eine Obergrenze vor. Diese Grenze liegt bei 10 Jahre Kittchen.

Im Fall der S-Bahn-Schläger sollen die Täter nun nach dem Erwachsenenstrafrecht behandelt werden. „Es geht selbstverständlich auch um die Sühne für den Fall“, so Merk in einem Interview. „Ich bin zutiefst Entsetzt über die Rohheit des Angriffs.“Der 17 jährige Täter könnte, wenn sein Alter berücksichtigt wird, nach der Verurteilung mit einer geringeren Strafe davon kommen, als der 18 Jahre alte Mörder – dies teilte die Staatsanwaltschaft in Voraus mit. Ob der ältere Täter nun nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt wird oder ihm der Status eines „Heranwachsenden“ (18-20 Jahre) eingeräumt wird, hängt nun von dem Richter ab.

Viel wichtiger als die Frage nach der Strafe ist jedoch die nach Zivilcourage. Wer begibt sich nach einem solchen Fall wie in der Münchner S-Bahn noch freiwillig in eine gefährliche Situation, um anderen Menschen zu helfen? 2007 weist ein Rentner Jugendliche auf das Rauchverbot in der U-Bahn hin: Kurz darauf wird er lebensgefährlich verletzt. Vergangenen Dezember wurden ein 24-jähriger Mann und sein jüngerer Bruder von sechs Jugendlichen brutal niedergeschlagen und verletzt.

Jugend und Zivilcourage? Ginge man nach den Medienberichten, so könnte man meinen, dass die Jugendlichen keine Zivilcourage leisten, sondern diese vielmehr mit tödlichen Schlägen bestrafen. Dies führt natürlich dann wieder dazu, dass diejenigen, die Zivilcourage besitzen, sich nicht mehr trauen – die Angst vor den Konsequenzen ist einfach zu groß. Die Folge: Wir Jugendlichen rutschen immer weiter in die Rolle von passiven Beobachtern, die zwar mit Gewalt in Filmen und Videospielen aufwachsen, diese aber im richtigen Leben nicht verhindern wollen.

Ganze ehrlich: Wer wäre schon dazwischen gegangen, als der 50 Jährige auf dem Boden liegend verprügelt wurde?





http://jetzt2.
sueddeutsche.de/

texte/anzeigen/
485571



Er hat nicht weggeschaut, er hat sich nicht weggedreht. Er hat das getan, wofür in den Veranstaltungen geworben wird, in deren Titel "Gemeinsinn" steht: Er hat Zivilcourage gezeigt. Er hat Pöbeleien und Attacken auf Fahrgäste in der S-Bahn nicht hingenommen, hat versucht zu schlichten, die Täter gemahnt, die Opfer in Schutz genommen. Am Ende ist er deshalb selber zum Opfer geworden. Sein Mut war tödlich, seine Zivilcourage hat ihm das Leben gekostet. Das ist das besonders Furchtbare an dem Verbrechen an der S-Bahn Haltestelle in München-Solln: Die Täter haben dort den bürgerlichen Mut erschlagen. Das kann böse Folgen haben, weit über die böse Tat hinaus.



















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Das Hohelied der Zivilcourage



Die Jury von ZEIT und Radio Bremen stellt vor: Hermann Vinke »Das Dritte Reich – eine Dokumentation«



Umfragen belegen: Viele Jugendliche in unserem Lande besitzen nur dürftige Kenntnisse über den Nationalsozialismus und seine Massenverbrechen. Diesen betrüblichen Umstand machen sich Rechtsradikale und Neonazis zunutze, um ihre Lügen und Legenden unters Volk zu bringen. Als Mittel dagegen hilft immer noch am ehesten historische Aufklärung. Die liefert Hermann Vinke in seiner Dokumentation



Der Journalist und frühere ARD-Korrespondent hat in mehreren Büchern, darunter eine preisgekrönte Biografie der Sophie Scholl, bewiesen, dass er sich auf die Bedürfnisse eines jugendlichen Publikums einzustellen weiß. Er schreibt informativ, ohne den aufdringlichen Gestus der Belehrung, in einer präzisen, schnörkellosen Sprache. Und er versteht es, auch komplizierte Sachverhalte bündig darzustellen, ohne dass dabei Wesentliches verloren geht.



Präsentiert wird die Geschichte des »Dritten Reiches« nicht als trockener Schulbuchtext, sondern in einer interessanten Mischung aus Erzählung, handbuchartigen Erläuterungen, Kurzbiografien und chronologischen Übersichten. Besonders hervorzuheben ist die sorgfältige Auswahl der mehr als 300 historischen Fotos. Sie sind nicht nur illustratives Beiwerk, sondern erzählen häufig eine eigene Geschichte.



Vinke setzt kräftige Akzente. Er betont den terroristischen Charakter der Nazi-Diktatur, ohne ihre verführerischen Seiten zu unterschlagen. Heutige Jugendliche möchten ja auch erfahren, was den Nationalsozialismus für junge Menschen damals so attraktiv machte. Noch wichtiger ist es, ihnen verständlich zu machen, wie es zu den beispiellosen Verbrechen hat kommen können. In den Schlüsselkapiteln über den deutschen Vernichtungskrieg und den Holocaust wird nichts ausgelassen: das Wüten der Einsatzgruppen und der Wehrmacht in Polen und der Sowjetunion, das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen, die brutale Rekrutierung von Zwangsarbeitern, schließlich die Ermordung der europäischen Juden in Auschwitz und anderen Todesfabriken. »Ein Bruch der Zivilisation findet statt, der in seinen Ausmaßen letztlich nicht fassbar ist«, kommentiert der Autor.



Vinke zeigt aber auch: Es gab immer Menschen, die nicht mitmachten oder sich anpassten, sondern der Stimme ihres Gewissens folgten und sich widersetzten – die Bedrängten zur Flucht verhalfen, Juden versteckten, Befehle verweigerten. Von der organisierten Opposition gegen Hitler bis hin zu den kleinen Gesten der Mitmenschlichkeit im Alltag wird eine breite Palette widerständigen Verhaltens entfaltet. Das Buch preist die Tugend der Zivilcourage. Es waren nicht viele, die den Mut zum Protest aufbrachten, und nicht wenige bezahlten mit ihrem Leben. Nicht nur bekannten Widerstandskämpfern, sondern manchen der »stillen Helden« setzt Vinke in seinen biografischen Porträts ein Denkmal.



Am Ende zitiert der Autor aus Richard von Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1945: »Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.« Zu dieser Verantwortung gehört ein bewusster Umgang mit der dunkelsten Periode deutscher Vergangenheit, und dafür bietet dieses Kompendium des Wissens eine ausgezeichnete Grundlage. Volker Ullrich