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Spd Ideologie Standpunkte – Programm
Günter Grass
Wir kennen Ihre Leistungen, obgleich sich die SPD bemüht, die Leistungen der Sozialdemokraten verschämt zu verbergen und lieber von dem zu sprechen, was sich heute noch nicht, aber vielleicht in zehn Jahren realisieren läßt. Diese zermürbende Erfahrung hat mich zu folgender Erkenntnis gebracht: Ein Sozialdemokrat ist jemand, der nicht an seine Leistungen, sondern an seine Resolutionen glaubt.«
CHANCENGLEICHHEIT Damals wie heute ging und geht es um Chancengleichheit, um einen für alle Kinder offenen Bildungsweg. Die Widerstände der Christdemokraten haben dieses Reformwerk behindert, blockiert, ideologisch bekämpft. Heute – und angesichts sozial spaltender Auswirkungen der bundesweiten Schulmisere – schwindet der Widerstand, wächst bei Eltern und Kindern der Wunsch nach Gesamtschulen, sind plötzlich die Christdemokraten bemüht, auf den fahrenden Zug aufzuspringen, ja tut die CDU so, als sei dieses Schulmodell ihre ureigenste Erfindung; und die Sozialdemokraten sehen dem Etikettenschwindel fassungslos zu.
MITBESTIMMUNG Soll etwa nun auch das große Reformvorhaben, ›die Mitbestimmung‹, mit eitel sozialdemokratisch schlechtem Gewissen bis zur Glanzlosigkeit zerredet werden?« Erklärend sei dazu gesagt, daß das Vorhaben Mitbestimmung dazumal nicht nur von der CDU/CSU und den Wirtschaftsverbänden, sondern auch jenseits der Mauer von der SED lautstark als Revisionismus bekämpft wurde. Dazu sagte ich vor der Fraktion: »Der demokratische Sozialismus darf nicht weiterhin aus der Klamottenkammer der Kommunisten und aus dem Fundus unserer Konservativen wechselseitig zum Schreckgespenst aufgeputzt werden; vielmehr sollte es Ihr offensives Bedürfnis sein, den demokratischen Sozialismus den Bürgern faßlich zu machen: als Alternative zu den zwei konservativen bis reaktionären Ordnungen, zum kommunistischen Staatskapitalismus – zum westlichen Kapitalismus der Kartelle.«
SOLIDARISCHE GESELLSCHAFT »Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns eine dauernde Aufgabe ist. Das Prinzip unseres Handelns ist die soziale Demokratie.«
WOHLFAHRT - GERECHTIGKEIT Das Hamburger SPD-Programm stellt dazu fest: »Dieses Jahrhundert wird entweder ein Jahrhundert des sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Fortschritts sein, der allen Menschen mehr Wohlfahrt, Gerechtigkeit und Demokratie eröffnet. Oder es wird ein Jahrhundert erbitterter Verteilungskämpfe und entfesselter Gewalt sein.«
Vor fünf Jahren veröffentlichten Daniela Dahn, Johano Strasser und ich ein Buch unter dem Titel In einem reichen Land.
KAPITALISMUS – LOBBYISMUS Die Interessen der Lobbyisten schlugen durch, als es um die Gesundheitspolitik ging. Sie maßten sich das letzte, in der Regel verhindernde Wort an, als Schadstoffbegrenzungen festgelegt werden sollten. Sie und ihre Klientel in den Parlamenten blockierten den Versuch einer wirksamen Bankenaufsicht und Kartellkontrolle. Sie sind der Staat im Staate. Und was faul stinkt im Staate, sind sie. Sie, ungewählt, doch mit der Macht des Kapitals ausgestattet, verkörpern den ärgsten Feind der Demokratie. Ihr, der Lobby, ist keine Bannmeile gesetzt. Asoziale Managergehälter und allerorts wuchernde Korruption sind die Begleiterscheinungen des Lobbyismus.
Das Gebäude des Bundestages ist das Haus der Demokratie. Erteilen Sie der Vielzahl wieselnder Lobbyisten von morgen an Hausverbot.
NORD-SÜD-KONFLIKT Wie kein anderer Politiker hat Willy Brandt nach seiner Amtszeit als Bundeskanzler eine global wirksame Politik gefordert. Ich spreche vom Nord-Süd-Bericht, den er Mitte der siebziger Jahre im Auftrag der UNO verfaßte. Damals hatte die Bestandsaufnahme wachsender Diskrepanz zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden nur Kopfnicken zur Folge. Seine Forderung nach einer Weltinnenpolitik verhallte. Selbst seine Partei war nicht zu bewegen. Doch wer heute diesen Bericht aufschlägt, der erkennt, daß Willy Brandt frühzeitig die gegenwärtig durchschlagenden Folgen damaliger Versäumnisse beim Namen genannt hat. Seine Forderung nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung, die es den Staaten der sogenannten Dritten Welt erlaubt, gleichberechtigt mit den Industriestaaten des Nordens Handel zu treiben, ist, wie das letzte Gipfeltreffen bewiesen hat, wiederum nicht aufgegriffen worden.
Willy Brandts Rede, gehalten noch als Bundeskanzler vor den Vereinten Nationen, mündete in den Satz: »Auch Hunger ist Krieg!« Sein Ausruf wurde vom Beifall erschlagen. Mehr geschah nicht.
KINDER Von Anbeginn, zu Bebels Zeiten, als der 12-Stunden-Tag Regel war, hat die SPD gegen Kinderarbeit in Bergwerken und Fabriken gekämpft. Allein aus dieser Tradition leitet sich mein vierter Merkzettel ab: Bereitet der Not der Kinder in unserem so reichen und doch kinderarmen Land ein Ende. Nicht die wie blindlings geplante Erhöhung von finanziellen Zuwendungen wird Abhilfe schaffen, wohl aber wäre die kostenlose und flexibel gestaltete Ganztagsbetreuung noch nicht schulpflichtiger Kinder eine wirksame Entlastung besonders der Alleinerziehenden.
1968 Nein, der Protest der Jugend damals war überfällig, notwendig und hat die Bundesrepublik aus ihrer restaurativen Erstarrtheit befreit.
Erhard Eppler: Was ist heute links?
I. Vom Präsidenten aus links sitzen meist die Abgeordneten, die den etablierten Mächten am radikalsten widersprechen. Das war so bei den Jakobinern in der französischen Revolution, den deutschen Republikanern 1848, den Kommunisten in der Weimarer Republik. Auch heute gibt es Menschen, die sich schon deshalb für links halten, weil sie die Leute, die für sie die Herrschenden oder auch die Eliten sind, als unfähig, lobby-hörig, geld- und geltungssüchtig oder gar korrupt verachten. Nur: tun dies nicht auch die Rechtsradikalen? Mit der Regel, man sei umso weiter links, je weniger man von den jeweils Dominierenden halte, kommen wir also nicht weiter.
Daher hilft auch nicht das Kriterium der Staatsnähe oder Staatsferne. Im 19. Jahrhundert waren es in Preußen die Konservativen, die mit Bismarck den starken, hochgerüsteten Staat verfochten – gegen den Widerstand der Liberalen. DieLiberalen, die auch nach 1871 an ihrer Kritik festhielten, verstanden sich als Linksliberale, die andern, die sich mit Bismarck arrangierten, nannten sich Nationalliberale. Und Heute? Wenn Guido Westerwelle unverdrossen für Steuersenkungen eintritt, ohne sich darum zu kümmern, welche Aufgaben des Staates dann noch erfüllt werden können – ist das dann links? Oder wird er dabei zum Sprachrohr einer dünnen Schicht, die für die Bildung ihrer Kinder, ja für ihre Sicherheit selber sorgen kann?
Damit wären wir bei einem brauchbareren Kriterium: den Interessen. In einer pluralistischen Demokratie ist Interessenvertretung nichts Anrüchiges. Aber es hat doch wohl mit rechts und links zu tun, welche Interessen man vertritt. Zumal in einer Zeit, in der die Kapitaleinkünfte kontinuierlich zunehmen auf Kosten der Einkommen aus Arbeit, wäre es doch wohl links, die Kapitaleinkommen stärker, die Arbeitseinkommen weniger zu besteuern. Wenn ein global agierendes Kapital dies verhindern kann, indem es mit Investitionsverweigerung und Kapitalflucht droht – oft braucht es gar nicht zu drohen -, wird linke Politik ein halsbrecherisches Unternehmen. Wer aber aus einsichtigen Gründen nicht mehr zu tun wagt, was er für gerecht hält, muß dies dann auch offen einräumen. Beides, das Eingeständnis der Ohnmacht und deren Vertuschung, kosten Vertrauen.
Linke Politik orientiert sich am gemeinen Wohl – und sie stellt sich dem Diskurs darüber, was dies jeweils sei – aber sie tritt auch für die Schwächeren ein. Beides kann sich decken, muß aber nicht. Soziallasten können die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit schmälern, sie fördern aber auch die Auslastung der Kapazitäten einer Volkswirtschaft. Verantwortliche linke Politik wird also immer versuchen, Hilfe für die Schwächeren in Einklang zu bringen mit dem Wohl des Ganzen. Innerhalb einer marktradikal globalisierten Wirtschaft gelingt genau dies im Nationalstaat nur selten. Darum hat die Linke schon bessere Zeiten gesehen.
II. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert bedeutete links progressiv. Linke glaubten an den Fortschritt. Geschichte war für sie Fortschritt, und zwar für die Liberalen wie die Sozialisten. Die Liberalen glaubten an einen kontinuierlich wachsenden Wohlstand durch technische Innovation. Kultureller Fortschritt durch mehr und bessere Bildung galten als notwendige Folge. Die Arbeiterschaft, die jeden Tag erfuhr, wie wenig sie an alledem teilhaben konnte, sah mit Marx den Fortschritt im Gefolge von Klassenkämpfen kommen. Aber auch der historische Materialismus kannte ein dialektisches Szenario des notwendigen Fortschritts. Für die Konservativen war solcher Fortschritt zuerst einmal Abwertung und Verfall des Bewährten: Familie, Religion, Monarchie, Ständegesellschaft.
Der Fortschrittsglaube hat das Gemetzel des Ersten und sogar des Zweiten Weltkriegs besser überstanden, als zu erwarten war. Sogar Konservative wie Franz Joseph Strauß wollten „an der Spitze des Fortschritts“ marschieren. Gemeint war wirtschaftliches Wachstum durch einen technischen Fortschritt, der inzwischen „Innovation“ hieß. Dafür rückten Sozialdemokraten vom Fortschritt als Geschichtsgesetz ab. „Bloßes Fortschreiben“, so heißt es im Berliner Programm der SPD von 1989, „ergibt keine Zukunft mehr“. Nicht nur keinen Fortschritt, sondern keine Zukunft. Daher sagen die Sozialdemokraten, welchen Fortschritt sie wollen, nämlich einen, „der den Frieden nach innen und außen sichert, das Leben von Mensch und Natur bewahrt, Angst überwindet und Hoffnung weckt.“ Und weil dieser Fortschritt, der auch „das Bewahrenswerte erhalten“ will, nicht von selbst kommt, wollen die Sozialdemokraten „dafür arbeiten“. Links ist also nicht mehr der Glaube an den Fortschritt, sondern der Wille zum Fortschritt. Und dies verlangt „Umdenken, Umsteuern, Auswählen und Gestalten“. Linke fühlen sich dafür verantwortlich, dass technische Innovation menschlichem Fortschritt dienstbar gemacht wird.
Für die Öffentlichkeit sichtbar geworden sind diese Verschiebungen durch den Konflikt über die Atomenergie. Während für die Unionsparteien die Atomenergie eine technische Spitzenleistung ist, die sich eine Industrienation nicht entgehen lassen darf, fragen Sozialdemokraten, ob diese Energie auf Dauer ohne Katastrophen handhabbar ist von Menschen, die zwar sehr vernünftig, hilfsbereit und gewissenhaft sein können, aber auch müde, betrunken, depressiv, wütend, rachsüchtig, aggressiv bis zum Selbstmordattentat. Sie fragen, ob in einer Welt bröckelnder Gewaltmonopole, unzähliger bewaffneter Konflikte innerhalb von Staaten eine solche Energiequelle verantwortbar sei.
III. Dabei zeigt sich ein Wandel, ja eine Umkehrung auf einem Gebiet, das noch vor hundert Jahren links und rechts eindeutig trennte: dem des Menschenbildes. Um 1900 war es noch nicht üblich, vom „christlichen Menschenbild“ zu reden, ohne zu verraten, was damit gemeint ist. Damals warfen die Konservativen den Linken vor, sie hätten ein allzu optimistisches Menschenbild, sie glaubten mit Rousseau an den von Natur aus guten Menschen, den man nur in die richtigen Verhältnisse versetzen müsse, damit sein Gutsein für jeden erkennbar werde. In der Tat war das Emanzipationspathos der Linken verbunden mit einem optimistischen Menschenbild: Der Mensch war zur Freiheit berufen, er musste sich nur befreien von allerhand Bevormundung. Der Fortschritt beschleunigte sich dann von selbst.
Konservative hielten dem entgegen, der Mensch sei auch zum Bösen fähig, ja er sei durch Erbsünde belastet und geschlagen, daher bedürfe er einer harten Ordnung, auch „des Schwertes“ (Luther), damit er sich nicht seinen schlimmen Neigungen hingebe. Sogar gegen kürzere Arbeitszeiten (kürzer als 48 Stunden) wandten Konservative ein, wenn die Leute – und manche sagten sogar „der Pöbel“ - nicht von früh bis spät schufteten, kämen sie nur auf dumme Gedanken. Weil der Pöbel sich niemals selbst regieren könne, waren Konservative lange gegen Demokratie. Es waren diese gegensätzlichen Bilder vom Menschen, die den „Weltanschauungsparteien“ zugrunde lagen.
Das 20. Jahrhundert hat davon wenig übrig gelassen. Die Sozialdemokraten haben sich im Berliner Programm zum ersten Mal präzise zu ihrem Menschenbild geäußert. Sie beziehen sich auf die Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen, sehen den Menschen als „Vernunft- und Naturwesen, als Individual- und Gesellschaftswesen“ und bewegen sich sehr nahe an dem, was Theologen zum christlichen Menschenbild zu sagen haben. In unserem Kontext entscheidend sind die Sätze: „Der Mensch, weder zum Guten noch zum Bösen festgelegt, ist lernfähig und vernunftfähig. Daher ist Demokratie möglich. Er ist fehlbar, kann irren und in Unmenschlichkeit zurückfallen. Daher ist Demokratie nötig.“
Nach Sigmund Freuds Psychoanalyse, nach Hitler und Stalin ist das Menschenbild der Linken skeptischer und realistischer geworden. Willy Brandt konnte im kleinen Kreis erzählen, wie er als Junge gesungen habe „Der Mensch ist gut!“ und wie er immer wieder das Gegenteil erleben musste. Was ihn daran hinderte, ein Menschenverächter zu werden, war seine Fähigkeit zur Selbstkritik und sein Humor. Aber er hatte viel Verständnis für das Argument, Menschen brauchten eine fehlerfreundliche Technik, keine, die, wie die Atomenergie, auf perfekte Menschen angewiesen sei. Atomkraftwerke und chaotische Gewalt passen nicht zusammen. Ist das nur links oder einfach vernünftig? Jedenfalls ist es die Haltung, die von den Erben der Zentrumspartei und der preußischen Konservativen zu erwarten gewesen wäre.
Für die frühen Konservativen schloß ihr skeptisches Menschenbild Demokratie aus. Für die Linke begründet heute ihr weniger optimistisches Menschenbild die Demokratie, ihre Mechanismen der Gewaltenteilung, der Machtkontrolle, der Macht auf Zeit. Dazu gehört heute das Wagnis direkter Demokratie. Wer Demokratie auch gegen Routine und Langeweile verteidigen will, muß dem Souverän die Chance geben, seine Meinung unmittelbar durchzusetzen, notfalls gegen die von ihm gewählte Parlamentsmehrheit.
IV. In Deutschland der Hohenzollernkaiser, aber auch noch in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik, war wohl eine Mehrheit der Meinung, die Konservativen hätten den Umgang mit Macht, das Regieren, gelernt, die Linken seien allenfalls gut als kritisches Korrektiv, als Opposition. Daran war nicht alles falsch. Linke Positionen wurden in Europa häufig zuerst als Kritik hörbar. Liberale wie Sozialisten wandten sich zuerst einmal gegen die Kräfte, die offenkundig mehr zu sagen hatten, als für das Ganze gut war. Das war für die Liberalen der preußische Landadel und die lutherische Geistlichkeit, für die Sozialisten dazu noch die aufstrebende Bourgeoisie, auf die sich die Liberalen stützen.
Aus welcher Richtung droht heute eine Vor-Herrschaft über alle anderen Kräfte der Gesellschaft? Vom Adel sicher nicht mehr, von den Kirchen auch nicht. Handwerker und mittelständische Unternehmer haben Mühe, sich zu behaupten. Noch mehr gilt dies für die Gewerkschaften. Der Staat? Er kann gelegentlich lästig werden, aber gerade der Nationalstaat ist vom global agierenden Kapital zum Standort degradiert worden, den man mit Investitionen fördern kann- oder auch nicht. Für die Liberalen gilt immer noch: Im Zweifel gegen den Staat. Aber sie selbst behaupten nicht mehr – wie vor 100 Jahren – dies sei links.
Kennzeichen des beginnenden 21. Jahrhunderts ist die Dominanz des Marktes. Hatte der Kommunismus versucht, den Markt durch Bürokratie und politische Entscheidungen zu ersetzen, so wird heute dem Markt mehr übergeben, als gut ist. Der Markt, so hören wir, sei immer klüger als die Politik, überdies auch flexibler, effizienter, billiger. Vor allem in den Kommunen hat dies dazu geführt, dass, wenn einmal die Stadtwerke verkauft, der öffentliche Nahverkehr oder die städtische Klinik privatisiert ist, im Gemeinderat immer weniger zu entscheiden ist. In Bundesländern wird ausgelotet, inwieweit die Verfassungen eine Privatisierung der forensischen Psychiatrie oder gar des Strafvollzugs erlauben. Aber wer sein Geld in Gefängnissen angelegt hat, ist auch an deren Auslastung interessiert. Inzwischen wird klar, dass alles, was dem Markt überlassen wird, zur Ware werden muß. Und Waren haben die Eigenschaft, dass die einen sie kaufen können, die anderen nicht. Und die einen sind oft wenige, die anderen viele.
Das stört nicht, wenn es sich um Kühlschränke oder Brot oder Autos handelt. Dass einer sich einen Porsche leisten kann, die andere nicht einmal einen Golf, muß auch einen modernen Linken nicht empören. Der Wettbewerb der Bäcker um die schmackhaftesten Brotsorten ist sicher dem staatlich verordneten Brotrezept vorzuziehen. Aber wie steht es mit Kultur, Bildung oder gar Sicherheit? Dürfen sie auch zur Ware werden, die der eine sich kaufen kann, die andere nicht?
V. In den USA ist ein – bislang nicht ins Deutsche übersetztes – Buch von 800 Seiten erschienen, geschrieben von einem blitzgescheiten Ökonomen, Historiker und Präsidentenberater namens Philip Bobbit. Für ihn läuft die Geschichte auf den Marktstaat zu, den „market state“, in dem der Staat nur noch dafür verantwortlich ist, dass die Märkte funktionieren, während die Bürgerinnen und Bürger sich die „opportunities“, die günstigen Gelegenheiten zunutze machen sollen, welche die Märkte bieten, auch der Arbeitsmarkt, der Bildungsmarkt, nicht zuletzt der Sicherheitsmarkt mit seinen privaten Sicherheitsfirmen. Zwischen Staat und Bürger schiebt sich der Markt. Der Staat ist verantwortlich dafür, dass der Arbeitsmarkt, möglichst dereguliert, funktionieren kann. Er ist nicht zuständig für die Menschen, die keine Arbeit finden. Der Staat ist nicht verpflichtet, als Inhaber des Gewaltmonopols für Sicherheit zu sorgen. Sie ist am Markt erhältlich, für alle, die es sich leisten können. Die es nicht können, haben Pech gehabt.
Sicher, den Bobbit’schen Marktstaat gibt es so noch nicht, auch nicht in den USA. Aber vieles, was heute politisch verfochten wird, bekommt erst seinen präzisen Sinn, wenn man den Marktstaat als Ziel unterstellt.
Die Tendenz zum Marktstaat wird begleitet von einer beängstigenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche und damit auch des Bewusstseins. Wer sich täglich darum bemüht, die jeweils billigste Bahnfahrkarte oder Flugkarte, das billigste Telefongespräch, das sensationellste Schnäppchen ausfindig zu machen, ist ausreichend beschäftigt. Und wenn er dann doch Zeit hat, einen privaten Fernsehsender einzuschalten, so umwerben ihn attraktive Damen, die immer neue Gewinne von einigen tausend Euro ausloben.
„Geiz ist geil“ kann nur verkünden, wer die Ökonomisierung seines Bewusstseins hinter sich hat. In der abendländischen Geschichte war der Geizige entweder ein Sünder oder eine lächerliche Figur (Molière). Für mittelalterliche Theologen wie für die Aufklärer des 18. Jahrhunderts wäre „Geiz ist geil“ das Motto einer heruntergekommenen Gesellschaft.
Der Marktstaat wird nur hingenommen, wenn das Bewusstsein hinreichend ökonomisiert ist. Und je näher wir dem Marktstaat rücken, desto mehr verfestigt sich die Ökonomisierung des Bewusstseins.
Wer, wie George W. Bush, nicht zwischen Konsument und Citoyen unterscheidet, hält den Marktstaat für Demokratie, ja für perfekte Demokratie. Denn die Wahlmöglichkeiten, die opportunities, wachsen. Aber als Citoyen, als Staatsbürger, hat der freie Konsument kaum mehr etwas zu entscheiden. Renten? Die sind am Versicherungsmarkt zu haben. Bildung? Sie ist überall zu kaufen – oder auch nicht. Politik wird nicht verboten, sie wird überflüssig, gegenstandslos. Der Citoyen wird zum Kunden.
VI. Wenn linke Positionen zuerst Gegenpositionen zur jeweils dominierenden Macht sind, dann muß die Linke jetzt klarmachen, was zur Ware werden darf und was nicht. Bildung ist ein Menschenrecht, dem der Staat zu dienen hat, keine Ware. Sicherheit ist eine Bringschuld des Staates, seit er sein Gewaltmonopol durchgesetzt hat. Kultur ist eine der Äußerungen der menschlichen Natur, die seine Würde ausmachen. Also müssen auch Formen der Kultur möglich sein, die sich am Markt nicht behaupten können. Wenn zu den Menschenrechten die körperliche Unversehrtheit gehört, dann steht jedem Menschen ein Existenzminimum zu, auch wenn er es nicht bezahlen kann. Und so fort.
Links ist heute zuerst einmal der Wille, Politik – und als Instrument von Politik den Staat – gegen das Überborden des Marktes zu verteidigen. Demokratie ist nicht nur, aber primär eine Staatsform. Man kann nicht in immer neuen Bereichen Staat durch Markt ersetzen, ohne die Demokratie zu demontieren. Der demokratische Staat und seine Citoyens und Citoyennes verhalten sich unmittelbar zueinander: Die Citoyenne fühlt sich direkt verantwortlich für das, was in ihrer cité geschieht und geschehen soll. Und die cité weiß sich zuständig, wenn die citoyenne krank oder arbeitslos wird, wenn sie Bildungschancen für ihre Kinder sucht.
Natürlich ist die Citoyenne auch Konsumentin, Kundin, und sie ist es gerne. Aber auch beim Einkaufen ist ihr nicht gleichgültig, wo die Erdbeeren herkommen, wie und wo das T-Shirt gefertigt wurde. Die Kundin bleibt Citoyenne. Wo das Bewusstsein ökonomisiert ist, verhält sich die Kundin auch da als Konsumentin, wo sie Politik konsumiert. Links ist, auf die Citoyenne zu setzen und damit auf Demokratie.
Links ist heute die Weigerung, die Frage nach der Gerechtigkeit einfach dem Markt zuzuspielen. Sicher, der kennt seine eigene Gerechtigkeit – und das wäre die des Marktstaats: Der Tüchtige – und wohl auch der Rücksichtslose, der Gerissene – wird belohnt, die Bequeme – und wohl auch die Gewissenhafte, die Kranke - wird bestraft. Was sozial gerecht wäre, lässt sich nur im öffentlichen Diskurs ermitteln. Links ist, diesen Diskurs offen und lernbereit zu führen. Dabei geht es um Verteilungs- u n d Chancengerechtigkeit, nicht um eines anstelle des anderen. Links ist es daher, den demokratischen Rechts-. und Sozialstaat mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, mitsamt seinem Gewaltmonopol. Denn keine Gesellschaft erleidet mehr Ungerechtigkeit als eine, in der die Sicherheit zur Ware wird, die nur noch wenige sich leisten können.
VII. Ich höre schon den Einwand: Das klingt doch reichlich defensiv, ja konservativ. Dies gilt in der Tat, solange wir in Kategorien des Nationalstaats denken. Solange der Nationalstaat von einem global agierenden Kapital erpresst und notfalls ausgehungert werden kann, bleibt die Linke in der Defensive. Daher muß ihr Gegenentwurf global oder doch mindestens regional sein, und das heißt für uns: europäisch.
Dass die Europäische Union immer größer wird, hat bei allen Nachteilen den Vorteil, dass hier ein Gebilde entsteht, das sich nur noch schwer erpressen lässt. Kein Konzern wird ernst genommen mit der Drohung, er wolle diesen Markt nicht mehr von innen bedienen. Er wird in der EU zu den Bedingungen investieren, welche die EU politisch festlegt.
Aber eben dies tut sie bisher nicht. Der Wettbewerb der nationalen Standorte um die günstigsten Bedingungen – auch um die niedrigsten Unternehmenssteuern – ist noch in vollem Gang, und kein Finanzminister kann sich ihm entziehen. Links wäre heute nicht mehr: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ – sie tun es bekanntlich nicht -, sondern „Finanzminister aller EU-Länder, einigt Euch!“
Die Europäische Union – und dafür gab es Gründe – war konzipiert als gemeinsamer Markt, nicht als gemeinsamer Staat. Ob das, was sich schließlich herausbildet, von Staatsrechtlern das Prädikat „Staat“ erhält, interessiert politisch nicht. Wohl aber die Frage, ob dieses Europa in der Lage sein wird, dem global agierenden Kapital Rahmen zu zimmern, die so stabil sind wie einst die nationalstaatlichen, die nun zum guten Teil als Brennholz herumliegen.
Links ist europäisch. Wer so tut, als müsse man nur im Nationalstaat alles so machen wie die Sozialliberalen in den Siebzigerjahren, ist nicht links, sondern populistisch. In den Siebzigerjahren, in relativ geschlossenen Volkswirtschaften, in Deutschland bei äußerst niedriger Staatsverschuldung, waren die Lehren von Keynes anwendbar, für die Ölkrise allerdings nur bedingt tauglich. Ist George W. Bush Keynesianer, weil er eine gewaltige Rüstung permanent über Schulden finanziert? Ist er deshalb gar links? Waren Hitler und Schacht links, weil sie von Keynes lernten? Ökonomische Theorien mögen vorwiegend der Rechten oder der Linken dienen, was links und rechts ist, können sie nicht definieren.
Auch wenn die entscheidende Frage bleibt, welches Europa wir wollen, bleibt wichtig, was wir vor Ort, in Gemeinden, in Ländern, im Nationalstaat tun. Es muß ein Europa vorbereiten – oder wenigstens nicht erschweren -, in dem Markt, Staat und Zivilgesellschaft ein neues Gleichgewicht finden.
VIII. Links war zwar nie dasselbe wie pazifistisch, aber der Widerstand gegen den Krieg kam fast immer von links. Was bedeutet dies in einer Welt, in der Kriege zwischen Staaten aus der Mode kommen? In Europa sind Kriege wie im 20. Jahrhundert höchst unwahrscheinlich. Keine Armee eines europäischen Staates ist für sich alleine fähig, einen größeren Krieg zu führen, sogar wenn eine verrückte Führung ihn wollte. Der Irakkrieg hat allen vor Augen geführt, dass auch ein Krieg außerhalb Europas nur Verlierer kennt. Die Kosten, ökonomisch politisch, moralisch, sind auch für den militärisch haushoch Überlegenen unkalkulierbar. Das letzte Wort hat nicht der Sieger, sondern die entstaatlichte Gewalt im Lande des Besiegten. Heute gibt es ein Argument gegen den Krieg zwischen Staaten, das härter durchschlägt als alles, was Pazifisten je zu sagen hatten: Auch das militärisch turmhoch überlegene Israel, vom Sicherheitsrat zum Waffenstillstand gezwungen, steht heute schwächer da als vor dem asymmetrischen Krieg im Libanon. Er lohnt sich nicht, er ist in jedem Fall ein miserables Geschäft.
Dafür geht der Staatszerfall weiter, und mit ihm die Privatisierung und Kommerzialisierung der Gewalt. An immer neuen Stellen muß ein korrupter Staat den Kalaschnikows der Warlords oder der Killerbanden weichen. Einen ohnehin schwachen Staat zu ruinieren, gelingt oft in wenigen Jahren. Dann herrscht das Recht der Gewehrläufe. Opfer sind die Schwächsten. Eine staatliche Rechtsordnung wieder aufzurichten, kann Jahrzehnte dauern.
Der Westen, auch Europa, sieht meistens zu, hilflos, ratlos, auch wenn, wie im Kongo, Millionen vor die Hunde gehen. Zynische Nicht-Intervention ist häufiger als machthungrige Intervention. Daher dürfte der Widerstand gegen multilaterale Eingriffe in zerfallende oder zerfallene Staaten immer häufiger von rechts kommen: Was geht es uns an? Was haben wir davon? Sicher, jede unilaterale Intervention ist vom Übel, sie kann nur das Unheil vermehren. Und jede Aktion der Vereinten Nationen kann schief gehen. Alles muß sorgfältig abgewogen werden. Aber das kategorische Nein dazu ist sicherlich nicht links. Links ist die Suche nach einem Internationalen Gewaltmonopol, das notfalls auch da wirksam wird, wo ein nationales Gewaltmonopol zerbrochen ist. Veröffentlicht am 26.10.2006
http://spdnet.sozi.info/nrw/lippe/schwal/index.php?nr=4882&menu=1
(25.09.2006) Erhard Eppler: Gefährliche Vision
In unseren Medien wird häufig beklagt, dass in Deutschland niemand mehr Visionen habe. Das stimmt und das hat seine Gründe. In Amerika ist das anders. Nur sind die Visionen dort nicht die unseren. Präsident Bush beschwört fast jeden Tag seine Visionen vom friedlichen, demokratischen, vom amerikanischen Beispiel beflügelten Nahen Osten, auch wenn seine Art, diese Visionen zu verwirklichen, im Gewaltchaos Irak zu enden scheint.
Nun hat auch einer seiner Berater eine Vision angeboten, und zwar in einem 800-Seiten-Werk, das leider noch nicht ins Deutsche übersetzt ist. Der Autor ist Ökonom und Historiker, ein blitzgescheiter Mann und heißt Philipp Bobbit.
Für ihn läuft die Weltgeschichte auf den Marktstaat zu, den "market state", in dem der Staat nur noch dafür verantwortlich ist, dass die Märkte funktionieren, während die Bürgerinnen und Bürger sich die "opportunities", die günstigen Gelegenheiten, zunutze machen sollen, welche die Märkte bieten, auch der Arbeitsmarkt, der Bildungsmarkt, nicht zuletzt der Sicherheitsmarkt mit seinen privaten Sicherheitsfirmen. Zwischen Staat und Bürger schiebt sich der Markt. Der Staat ist verantwortlich dafür, dass der Arbeitsmarkt, möglichst dereguliert, funktionieren kann. Er ist nicht zuständig für die Menschen, die keine Arbeit finden. Der Staat ist nicht verpflichtet, als Inhaber des Gewaltmonopols für Sicherheit zu sorgen. Sie ist am Markt erhältlich, für alle, die es sich leisten können. Die es nicht können, haben Pech gehabt. Was dem Markt überlassen wird, muss notwendig zur Ware werden. Und die kann sich eben der eine kaufen, die andere nicht.
Sicher, den Bobbit´schen Marktstaat gibt es so noch nicht in den USA. Aber vieles, was heute politisch verfochten wird, bekommt erst seinen präzisen Sinn, wenn man den Marktstaat als Ziel unterstellt. Auch bei uns.
Keine Partei hat den Marktstaat im Programm. Aber wer bei jeder Sachfrage beteuert, die Kräfte des Marktes seien immer klüger als die Willensbildung im demokratischen Staat, steuert darauf zu. Und das gilt sicher für die FDP. Wenn sie sich, meist ohne klare Gegenvorschläge, als Alternative zur Großen Koalition feiert, dann meint sie genau dies: Sie sieht sich auf dem Weg zum Marktstaat, und sie tadelt Angela Merkel, die davon abgekommen ist. Übrigens nicht, weil sie mit einer Großen Koalition arbeitet, sondern weil die Wähler vor einem Jahr klargemacht haben: Das wollen wir nicht.
Der demokratische Rechts- und Sozialstaat war die Alternative zur Kommunistischen Volksdemokratie. Und hat gewonnen. Er ist auch die Alternative zum Marktstaat. Und wird gewinnen, zumindest in Europa. Im demokratischen Rechts- und Sozialstaat darf alles dem Markt überlassen werden, was zu Ware taugt. Für Autos oder Kühlschränke gilt Angebot und Nachfrage.
Aber Bildung ist keine Ware, sondern ein Menschenrecht, dem der Staat zu dienen verpflichtet ist. Sicherheit vor Verbrechen ist eine Bringschuld des Staates, weil er das Gewaltmonopol für sich in Anspruch nimmt, keine Ware. Ärztliche Hilfe bei Krankheit ist ein Bürgerrecht, auch für Menschen, die sie nicht bezahlen können. Und so fort.
Im Marktstaat wird der Bürger langsam aber sicher zum Kunden, Politik wird gegenstandslos, für die Kundinnen und Kunden uninteressant. Denn sie können sich auf den Staat nicht mehr verlassen, wenn sie alt, krank, arbeitslos werden. Und der Marktstaat braucht ihr Engagement gar nicht.
Nein, es ist keine Vision, dafür zu sorgen, dass nicht zur Ware wird, was nicht zur Ware werden darf. Aber es ist des Schweißes der Edlen wert.
http://www.spd.de/menu/1689575/
Mit neuem Programm zur Sonne
Von Hans Riebsamen
16. September 2007 Was will die Sozialdemokratie? Früher hat ein Sozialdemokrat, der nicht weiterwusste, im Programm nachgeschlagen. Am liebsten im Godesberger Programm. Seit zwei Jahrzehnten gilt das Berliner Programm – aber es ist dem gemeinen Sozialdemokraten fast so unbekannt wie die Veda, die heilige Schrift der Hindus. Deshalb will sich die SPD ein neues Programm geben, eines, das – wie es die Bundestagsabgeordnete Nina Hauer am Samstag auf einem Sonderparteitag des SPD-Bezirks Hessen-Süd in Friedberg formulierte – noch in zwanzig Jahren sagt, was die SPD will.
Die Grundzüge des neuen Programms sind im sogenannten Bremer Entwurf zusammengefasst, seit Monaten zerbrechen sich die Mitglieder den Kopf über dieses Konzept. Mit besonderer Leidenschaft haben sich die Genossen von Hessen-Süd der Programmdiskussion hingegeben und mit fast philologischem Scharfsinn scheinbare ideologische Schwachpunkte ausfindig gemacht.
Feministisches Ausrufezeichen
130 Änderungsanträge lagen dem Parteitag vor, zusammengefasst in vier Büchern von insgesamt etwa 220 Seiten. So soll es nach dem Willen der Südhessen etwa im künftigen SPD-Programm nicht heißen: „Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die Gleichstellung von Frau und Mann hier und heute verwirklichen“, sondern: „Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die männliche überwinden.“ Zum Thema Kommentar: Lockruf des Populismus Koch in New York: Finanzfachmann, Außenpolitiker, Botschafter der Kanzlerin
Trotz dieses feministischen Ausrufezeichens ist es am Samstag ein Mann gewesen, der den Delegierten den seit langem vernebelten Weg zu Sonne und Freiheit oder zumindest die Richtung dorthin gewiesen hat. Ein alter Mann, einer, der damals, 1959, in Godesberg dabei war und für die Wendung der SPD von einer Klassenkampf- zu einer Volkspartei gestimmt hat: Erhard Eppler, seit Jahrzehnten ein Vordenker der SPD-Linken. Auch mit seinen 80 Jahren hat Eppler seine Fähigkeit zur Analyse und Zusammenschau nicht verloren – und auch nicht seine visionäre Gabe.
Was hat sich in den vergangenen achtzehn Jahren seit der Verabschiedung des Berliner Programms, dieses „Geheimdokuments“, geändert? Diese Frage hat Eppler an den Anfang seiner nachdenklichen Ausführungen gestellt. Denn das neue SPD-Programm, so seine Warnung, dürfe kein „Wunschzettel an den Weihnachtsmann“ sein, sondern müsse sich an der Wirklichkeit orientieren. An der Wirklichkeit der Globalisierung etwa. Sie ist für Eppler ein Faktum, ein entscheidendes Faktum sogar, das grundlegende Folgen für die Politik zeitigt. Zum Beispiel die, dass die Nationalstaaten gegenüber dem international operierenden Kapital immer mehr am kürzeren Hebel sitzen und erpressbar geworden sind durch die Androhung von „Nichtinvestitionen“. Der Ausweg heißt für Eppler „Europa“. Denn ein Europa mit gemeinsamen Steuer- und Sozialstandards wäre nicht erpressbar.
Menschenfreundliche Globalisierung
Das große Ziel der nächsten Jahre lautet für Eppler: die marktradikale Globalisierung in eine menschenfreundliche umwandeln. Die Chance dafür ist seiner Meinung nach vorhanden, denn die Welle des „Marktradikalismus“ ebbe ab. Europas Bürger lehnten eine immer weiter gehende Privatisierung von bisher staatlichen Aufgaben wie etwa der Wasserversorgung oder des Unterhalts von Gefängnissen ab. Deshalb sieht Eppler eine der wichtigsten Pflichten der Sozialdemokraten darin, eine Alternative zum „Marktstaat“ zu formulieren.
Am entschiedensten hat sich Eppler in Friedberg gegen die Privatisierung von Gewalt gewandt: im nationalen Rahmen durch das Überhandnehmen privater Sicherheitsdienste, im globalen durch den Zerfall von Staaten. „Wer das Gewaltmonopol des Staates verteidigt, verteidigt den kleinen Mann“, sagte Eppler. Denn der könne sich keine Sicherheitsleute leisten.
Eppler hat aus diesen Überlegungen heraus eine weitere These formuliert, eine provokante These. Die Staatengemeinschaft müsse dort einspringen, wo das nationale Gewaltmonopol zerbrochen sei. „Linke Politik“ dürfe sich nicht für die „zynische Nichtintervention“ entscheiden. Bei der anschließenden Afghanistan-Debatte zeigte sich indes, dass bei weitem nicht alle linken Genossen aus Südhessen so denken. Die Parteiführung etwa hatte für ein Ende der Operation „Eduring Freedom“ plädiert. Nur mit Mühe ist es Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul gelungen, eine knappe Mehrheit von der Sinnhaftigkeit des Kampfes gegen die Taliban zu überzeugen.
Text: F.A.Z. Bildmaterial: dpa
INTERVIEW MIT ERHARD EPPLER "Kein Politiker redet gern über seine Ohnmacht"
In den achtziger Jahren gehörte SPD-Politiker Erhard Eppler zu den Gegnern von Schmidts Realpolitik. Heute unterstützt der 77-Jährige den sozialdemokratischen Regierungschef Schröder bei der Durchsetzung seiner Reformprojekte. Mit SPIEGEL ONLINE sprach Eppler über Chancen und Machtlosigkeit der Politiker im Zeitalter der Globalisierung. SPIEGEL ONLINE:
Politiker sind in diesen Tagen nicht sonderlich beliebt. Bei Wahlen dominieren Protest- und Nichtwähler. Was machen die Politiker falsch?
Erhard Eppler: Natürlich machen sie immer wieder Fehler, aber ich glaube nicht, dass dies der entscheidende Grund der Politikverdrossenheit ist. Für mich ist entscheidend, dass die Gestaltungsmöglichkeiten für Politik durch die Globalisierung der Märkte dramatisch verringert sind. Das heißt, Politiker können gar nicht mehr das leisten, was die Bürger von ihnen erwarten.
SPIEGEL ONLINE: Zum Beispiel?
Eppler: Bei Hartz IV lautete einer der Vorwürfe: Warum erhöht ihr nicht den Spitzensteuersatz statt der Einkommensteuer? Die Antwort wäre redlicherweise gewesen, weil das Kapital auswandern kann und die Arbeit nicht. Diese brutale Antwort gibt aber kein Politiker, und so erwartet man Dinge von ihm, der er beim besten Willen nicht leisten kann.
SPIEGEL ONLINE: Also gibt es kein Mittel gegen Politikverdrossenheit?
Eppler: Politiker müssen redlicher sein und den Bürgern klar machen, wo die Grenzen ihrer Macht liegen. Das tun sie aber nicht gerne, weil die Leute dann fragen: Wozu gibt es euch eigentlich? Kein Politiker redet gerne über seine Ohnmacht. Vor allem in den neuen Bundesländern lebt noch die Vorstellung, dass die Regierenden, wenn sie nur wollten, alles könnten, und deshalb ist die Enttäuschung dort noch ein bisschen größer als im Westen.
SPIEGEL ONLINE: Der SPIEGEL-Autor Jürgen Leinemann hat in seinem neuen Buch* die Parallelwelt der Politiker geschildert. Unter anderem schreibt er, dass Politiker Anerkennung brauchen wie eine Droge. Ist das auch ein Grund dafür, dass Politiker ihre Ohnmacht nicht eingestehen?
Eppler: Mag sein. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass ein Politiker sogar an Ansehen gewinnt, wenn er sauber und redlich erklärt, wo die Grenzen seiner Handlungsmöglichkeiten sind. Man kann natürlich aus der Not der Globalisierung eine Tugend machen, und das ist das, was Frau Merkel probiert. Sie macht zum eigenen Programm, was die Konzerne verlangen. Ob das auf Dauer mehr Zuspruch bekommt, da habe ich meine Zweifel.
SPIEGEL ONLINE: Aber alle Politiker betonen doch ständig, dass sie den Zwängen der Globalisierung unterlegen sind. Bundeskanzler Gerhard Schröder selbst hat gesagt: Ich stehe hier, ich kann nicht anders.
Eppler: Aber er hat nie mit der brutalen Deutlichkeit gesagt, warum wir heute die sozialen Ungleichgewichte haben.
SPIEGEL ONLINE: Reicht es für den Kanzler und die SPD, Kurs zu halten, oder müssen neue Rezepte, neue Figuren her?
Eppler: Jedenfalls ist es richtig, Kurs zu halten. Ob es ausreicht, weiß ich nicht. Ich plädiere seit langem dafür, die gesamte Politik von Rotgrün unter das Motto zu stellen: Wir machen Deutschland zukunftstauglich. Von der Förderung erneuerbarer Energien bis zum Umbau der Bundeswehr und der Sozialsysteme. Das wäre eine durchaus realistische Formel, die mehr Anklang fände als das, was bisher gemacht wurde.
SPIEGEL ONLINE: Aber genau das sagt die Bundesregierung doch: Es gibt wohl keine typischere Politikerformel als "Deutschland zukunftsfähig machen".
Eppler: Die Minister sagen es immer nur bezogen auf die eine oder andere Maßnahme, aber sie entwickeln kein Gesamtkonzept, das die Menschen annehmen können. Man müsste alles, was die Regierung tut, unter das Motto stellen, Deutschland für das 21. Jahrhundert tauglich zu machen. Und das Seltsame ist, das dies gar nicht schwierig wäre.
SPIEGEL ONLINE: Sie beraten den Kanzler, reden auf Parteitagen der SPD. Wie erklären Sie sich, dass Elder Statesmen wie Sie heute wieder verstärkt um Rat gefragt werden? Hat das auch mit der Verdrossenheit über die aktuellen Politiker zu tun?
Eppler: Ich hab mir darüber auch schon Gedanken gemacht, warum so Leute wie ich dann plötzlich auf einem Parteitag auftauchen und Einfluss nehmen können oder müssen. Für mich ist das eine beunruhigende Angelegenheit. Ich frage mich, warum haben wir das nötig? Das war früher ja auch nicht so.
SPIEGEL ONLINE: Warum ist es nötig?
Eppler: Auf dem Parteitag habe ich zum Beispiel dem Kanzler geholfen, Unterstützung für den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr zu bekommen. Wegen meiner Vergangenheit in der Friedensbewegung hat mein Wort an diesem Punkt besonders gewirkt und den einen oder anderen zum Nachdenken gebracht. Jüngere haben keine solche Vergangenheit.
SPIEGEL ONLINE: Was fehlt jüngeren Politikern?
DPA
Der Kanzler und sein Berater: Fehlende Deutlichkeit Eppler: Ich glaube, dass es heute mehr Karrierismus in der Politik gibt als in meiner Generation. Wir sind nach dem Krieg in die Politik gegangen, weil wir gesagt haben, es darf nie wieder passieren, was wir erlebt haben. Ich habe das Wort Profilierung nicht gekannt, als ich 1961 in den Bundestag kam. Heute gibt es junge Leute, die sich nur noch als Profilierungssüchtige profilieren. Das ist auch ein Grund für die Politikverdrossenheit.
SPIEGEL ONLINE: Wenn Sie heute auf die Bühne eines Parteitags treten, spüren Sie da wieder den Höhenrausch, den Leinemann in seinem Buch beschrieben hat?
Eppler: Ich will gar nicht bestreiten, dass die ununterdrückbare Eitelkeit, die irgendwo in jedem Politiker schlummert, auf diese Weise geschmeichelt wird. Aber ich glaube nicht, dass ich deshalb hingehe. Ich gehe hin, weil ich meiner Partei nützen möchte, so lange ich kann.
Das Interview führte Carsten Volkery
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,321133,00.html
Tanz ums vergoldete Ego
Von Erhard Eppler
Was wir am Beispiel der Sozialdemokratie, hoffentlich ohne Schadenfreude, erleben, sind die Krämpfe einer Volkspartei im Zeitalter postmoderner Beliebigkeit, postmodernen Egokults. Wo im leidenschaftlichen Tanz um das vergoldete Ego alles Gemeinsame, alles Verbindliche verdampft, wenden sich Anhänger und Mitglieder einer Volkspartei mit Grausen.
Es hat seine Logik, daß dies zuerst der linken Volkspartei zustößt. Denn linke Parteien, die ja etwas verändern wollen, können sich nicht einfach durchwursteln. Sie werden gefragt, was sie ändern wollen, warum, zu welchem Zweck, zu wessen Gunsten, mit welchen Mitteln, mit wessen Hilfe, nicht zuletzt auch: aufgrund welcher Wertvorstellungen und mit welchen Zielen. Gibt eine Partei darauf gewissenhaft Antwort, entstehen daraus Programme, Grundsatzprogramme, Aktionsprogramme, Detailprogramme. Sie sollen Orientierung bieten. Dafür müssen sie zumindest insofern verbindlich sein, als, wer davon abweichen will, eine Begründungspflicht hat. Wenn auch nach gründlicher Beratung und klaren Beschlüssen immer neue Grundsatzdebatten nötig sind, wird die Partei handlungsunfähig. Ein nicht sehr bedeutendes, aber bezeichnendes Beispiel:
In der Koalition streitet man sich um die künftige Kfz-Steuer. Die Union will sie schadstoffbezogen beibehalten, die FDP will sie abschaffen und auf die Mineralölsteuer schlagen. Was der FDP neuerdings einfällt, steht seit zwanzig Jahren in allen sozialdemokratischen Programmen. Jetzt aber, wo entschieden werden soll, ist die SPD einfach nicht vorhanden. Auch der Grund dafür ist bezeichnend: Die Ministerpräsidenten der Länder, die um den vollen Ausgleich für ihre Ländersteuer bangen, bremsen. Das Präsidium schweigt. Die Bundestagsfraktion hat keine Stimme.
Die SPD lebt schon seit einiger Zeit von der Substanz. Manche wähnen, eine Partei, die so lange zusammengehalten habe, müsse auch künftig beieinanderbleiben. Sie irren. Vor hundert Jahren war die SPD eine Weltanschauungspartei. Man war in der Gewerkschaft, im Konsumverein, im Arbeitergesangverein, meist auch im Freidenkerverband und im Verein für Feuerbestattung. Eine Gesellschaft in der Gesellschaft, die zusammenhalten mußte. Aber das ist lange her. Geblieben ist bei manchen der Aberglaube, gemeinsame Interessen bänden die Partei zusammen. Die Menschen sollen sich zwar darauf verlassen können, daß die SPD im Zweifel eher den Schwachen hilft; aber der ledige Bergmann an der Ruhr hat andere Interessen als die alleinerziehende Mutter dreier Kinder, die als Bankangestellte in München ihr Brot verdient. Auch eine linke Volkspartei muß Interessen integrieren, sie kann sich nicht auf Interessenidentität verlassen. Eine Volkspartei muß deutlich machen, im Dienst welcher Werte, Ziele und Aufgaben sie Interessen integrieren will.
Die Sozialdemokratie lebt, seit es sie gibt, in der Spannung und von der Spannung zwischen Theorie und Praxis, Ziel und Weg, Programm und Wirklichkeit, hohen Zielen und ernüchterndem Alltag. Die ist seit etwa fünf Jahren erschlafft. Dabei war die Spannung lange Zeit größer, als der Partei guttat. Was August Bebel, am Erfurter Programm von 1891 orientiert, als Zukunftsstaat ausmalte, hatte wenig, zu wenig zu tun mit dem, was Reichstagsfraktion und Landtagsfraktionen beantragten und in wenigen Ausnahmefällen auch durchsetzten. Die Spannung zwischen beidem machte die Partei interessant und lebendig. Aber vor allem in der Weimarer Republik verprellte die SPD die Mitte durch revolutionäre Rhetorik, die Linke durch bestenfalls reformerische Praxis.
Damit hat Godesberg 1959 aufgeräumt. Das Programm hat der Partei kaum neue Ziele gesteckt. Es hat die Praxis aufgeschrieben und die Theorie ihr angenähert. Das war eine Leistung. Trotzdem blieb die Spannung. Kein Zufall, daß danach der Kampf um die Macht im Staat begann. Sicher, auch das Godesberger Programm wurde mehr beschworen als gelesen. Nur war dies nicht schlimm. Die Richtung war klar. Und klar war auch, daß demokratischer Sozialismus kein System, kein seligmachender Mechanismus war, sondern eine "dauernde Aufgabe".
Die Schubkraft von Godesberg erlahmte in den siebziger Jahren. Um die Mitte des Jahrzehnts drohte die Partei auseinanderzubrechen. Kritiker - haben wir das schon vergessen? - machten zwei Parteien aus: Die gewerkschaftlich geprägte und sozialpolitisch orientierte Traditionspartei stand gegen Zehntausende neuer, stärker intellektuell und mittelständisch bestimmter Mitglieder, die auf ökologischem Umbau bestanden und sich teilweise auch pazifistischen Argumenten öffneten.
Die Grundwertekommission der Partei hat seit der Mitte der siebziger Jahre an der Integration der beiden Positionen gearbeitet, und zwar mit Erfolg. In dem halben Jahrhundert politischer Tätigkeit, auf das ich heute zurückblicke, hat es keine aufregenderen, menschlich bewegenderen Diskussionen gegeben als die, in denen der alte Richard Löwenthal als Repräsentant der Parteirechten dem jungen Linken Johano Strasser lauschte, Iring Fetscher die geistesgeschichtlichen Koordinaten zog, Günther Brakelmann als Theologe für den Kumpel an der Ruhr um Verständnis warb, Thomas Meyer die künftigen Aufgaben der Partei formulierte und Susanne Mi ller unseren Streit souverän in die Geschichte der Partei einordnete. Vielleicht wird es eines Tages als wichtigste Entscheidung dieser Kommission gelten, daß sie keinen Satz veröffentlichte, der nicht die Billigung Richard Löwenthals hatte. Darauf bestand auch ich als Vorsitzender, obwohl ich als Repräsentant der anderen Seite galt.
Aus dieser Integrationsleistung ergab sich schließlich das Berliner Programm als "Angebot für ein Reformbündnis der alten und neuen sozialen Bewegungen". Es war keine intellektuelle Spielerei, sondern Abschluß eines dringend nötigen Mühens um Integration.
Daß dieses Programm sofort nach seiner Verabschiedung vergessen wurde, zeigte, daß die jetzt führende Generation der 68er diese Integration für selbstverständlich hielt. Jetzt muß sie lernen, daß dem keineswegs so ist, daß die alten Konflikte zwischen Ökonomen und Ökologen, Sicherheitspolitikern und Pazifisten wieder aufbrechen. Auch an diesem Punkt lebt die Parteiführung von der Substanz, ohne es auch nur zu merken. Und die Substanz ist bald aufgebraucht.
Warum aber ist das alles so? Eine Antwort darauf könnte lauten: Eine ganze Generation versagt, und zwar ausgerechnet die, auf welche wir doch gesetzt hatten. Nur: Das wäre zu einfach. Es ließe all das außer acht, was sich in den Bedingungen, unter denen Politik gemacht wird, verändert hat. Es geht aber auch nicht an, einfach die Gesetze der Mediengesellschaft zu beklagen, die vielem widersprächen, was die SPD groß gemacht hat. Da wir diese Gesetze nicht ändern können, bliebe nur der Fatalismus. Sicher: Die (Sekundär-)Tugenden, die man in der SPD einüben konnte, Rücksichtnahme, Bescheidenheit, Selbstdisziplin, die Bereitschaft, den Erfolg des Ganzen über die eigenen Gefühle und Wünsche, vor allem die eigene Karriere zu stellen, dienen in der Mediengesellschaft nicht der Profilierung; sie gelten als Attribute des "Langweilers". Und was die Talk- Shows belebt, ist gerade das, was die SPD verwirrt: das - oft nur scheinbar - Originelle, das kokett Abweichende, das Überraschende. Wenn solche Originalität sich dann mit den Gemeinplätzen des politischen Gegners deckt, um so besser für das Profil, um so schlimmer für die Partei.
Als ich 1961 in den Bundestag gewählt wurde, kannte ich das Wort "profilieren" noch nicht. Ich kannte Leute mit Profil: Fritz Erler, Adolf Arndt, Georg Leber, Gustav Heinemann. Aber keiner von ihnen hatte sich je darum bemüht. Sie taten, was sie für wichtig und nötig hielten, und waren froh, wenn sie sich dabei auf gemeinsam Erarbeitetes berufen konnten. Heute, wo jede Äußerung als Profilierungsversuch gedeutet wird, gibt es immer weniger Profile. Denn wo man - und frau - sich krampfhaft zu profilieren versucht, kommt meist nur das Profil des Profilierungssüchtigen heraus. Und wer "nur" saubere Arbeit leistet, wird übersehen. Die Postmoderne frißt ihre eigenen Kinder. Auch das ist ein Aspekt der Führungskrise der SPD.
Postmoderner Beliebigkeit entspräche ein unübersehbares und unübersichtliches Gewimmel kleiner und winziger Parteien. Wer eine Volkspartei, zumal eine linke, zusammenhalten und zum Erfolg führen will, muß auf das Verbindliche setzen, dafür sorgen, daß es Verbindliches gibt, daß es respektiert wird. Und da beginnt nun eben doch die persönliche Verantwortung, vielleicht sogar die politische Moral. Das everything goes mag gelten für private Fernsehsender, nicht für eine Volkspartei. Da geht eben nicht alles. Zumal dann nicht, wenn man den Ehrgeiz hat, etwas zu tun, was ganz aus der Mode gekommen ist: Politik zu machen. Das ziellose Gewurstel, das man heute in Deutschland Politik nennt, würden Briten unter politics without policy einstufen. Inzwischen wird schon der Verzicht auf jede Politik als modernste Form von Politik verkauft. Aber eben: Das alles halten die Konservativen allemal länger durch als die Sozialdemokraten. Die sind nur durch Politik zusammenzuhalten. Und Politik gibt es nur, wo man sich über Aufgaben verbindlich verständigen kann.
Was wäre das Verbindliche? Zum Beispiel das Bewußtsein der eigenen Geschichte, der Respekt vor ihr. Daß es einen Kurt Schumacher und einen Willy Brandt, eine Marie Juchacz und eine Martha Schanzenbach gegeben hat, muß man sozialdemokratischem Handeln heute abspüren können.
Verbindlich wären die Grundwerte: Es stimmt nicht, daß Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität nur Phrasen wären. Die Geschichte der SPD hat sie mit Inhalt prall gefüllt. Die Freiheit, die Otto Wels im Reichstag beschwor, als schon die SA in den Gängen rumorte, die Gerechtigkeit, für die Tausende ihre Lebenskraft opferten, die Solidarität, die Millionen das Überleben ermöglichte, sind nichts Abstraktes.
Es könnte sich lohnen, alle drei Funktionen ernst zu nehmen, die das Berliner Grundsatzprogramm den Grundwerten zuschreibt: "Sie sind unser Kriterium für die Beurteilung der politischen Wirklichkeit, Maßstab für eine neue und bessere Ordnung der Gesellschaft und zugleich Orientierung für das Handeln der einzelnen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten."
Vielleicht hätte uns dies das Diätendebakel ersparen können.
Verbindlich wäre das Grundsatzprogramm. Niemand muß es als Monstranz vor sich hertragen, aber alle sollten es kennen, sollten wissen, was der Beliebigkeit entzogen ist.
Da Programme meist zu lang sind, muß die Parteiführung sie für ihre Zeit zusammenfassen. Heute könnte dies etwa so lauten: Sozialdemokraten arbeiten dafür, daß der soziale Rahmen für die Marktwirtschaft, auch wenn morsche Latten durch frische ersetzt werden müssen, stabil bleibt. Sie wollen dazu einen ökologischen Rahmen zimmern, der das Überleben kommender Generationen sichert und gleichzeitig der Wirtschaft neue Chancen eröffnet.
Wahrscheinlich braucht eine Volkspartei immer auch ein Projekt, auf das sie ihre Kräfte konzentriert. Das wäre jetzt die Verbindung der ökologischen Steuerreform mit der Senkung der Lohnnebenkosten. Hier hat die Bundestagsfraktion die Arbeit der Präzisierung bereits geleistet. Nein, es stimmt nicht, daß die SPD programmatisch nichts zu bieten hätte. Sie bietet es nur nicht.
Das muß wohl an den Personen liegen. Es gibt viele fähige Frauen und Männer in der Sozialdemokratie, sicher nicht weniger als anderswo. Aber sie spielen nicht zusammen. Es gelingt ihnen nicht, die Aufgaben so zu verteilen, wie es dem Gesamtinteresse - der Partei und der Republik - entspräche. Vielleicht gewinnt der Vorsitzende eines Tages daraus seine Autorität, daß er selbst im Präsidium die Frage stellt, wie die unterschiedlichen Kräfte und Begabungen am wirksamsten einzusetzen wären. Aber das geht nicht in Zeiten der Verwirrung und der Turbulenz. Ich hätte nur ein paar Wünsche:
Generell den, schonend mit dem umzugehen, was die Partei hat, nicht so zu tun, als wären ihre Vorräte an Begabungen unerschöpflich. Dies heißt zum Beispiel: Ich würde es bedauern, wenn einige offenkundige Fehler dazu führten, daß die Partei auf die menschliche Zuverlässigkeit, die Solidität und Lernfähigkeit Rudolf Scharpings verzichten müßte. Ich fände es schade, wenn Günter Verheugen den Unfug, das Amt des Bundesgeschäftsführers mit dem des außenpolitischen Sprechers zu verbinden, mit dem Ende seiner Karriere bezahlen müßte. Ich finde, daß Wolfgang Thierse nicht deshalb weniger wert ist, weil in letzter Zeit weniger von ihm zu hören war. Aber ich habe mich auch darüber geärgert, wie die Fraktion mit Hertha Däubler-Gmelin umgegangen ist. Oder mit Norbert Gansel. So könnte ich fortfahren.
Zum Schluß ein Hinweis für alle: Es könnte ja sein, daß die Basis eines nicht sehr fernen Tages den Tanz um die vergoldeten Egos so gründlich leid ist, daß auf Parteitagen nur noch eine Chance hat, wer vor den Fernsehkameras anderes zu bieten hat als Selbstdarstellung und Ansprüche auf irgendwelche Positionen.
Erhard Eppler, langjähriges Mitglied der SPD-Führung, war von 1984 bis 1986 maßgeblich beteiligt an der Erarbeitung des neuen SPD-Grundsatzprogramms
DIE ZEIT, 42/1995
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Quelle: |
4. Sept. 08 |
DIE ZEIT |
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