Sebastian Haffner

Drill und Entmenschlichung in der NS-Zeit





Vier Wochen später trug ich Kanonenstiefel und eine Uniform mit einer Hakenkreuzbinde und marschierte viele Stunden am Tage als Teil einer uniformierten Kolonne in der Umgebung von Jüterbog herum und sang im Chor mit allen andern "Siehst du im Osten das Morgenrot" oder "Märkische Heide" und was der Marschlieder mehr waren. Wir hatten auch eine Fahne - eine Hakenkreuzfahne natürlich, und gelegentlich wurde diese Fahne vor uns hergetragen, und wenn wir durch ein Dorf kamen, so hoben die Leute rechts und links vor unserer Fahne die Hände hoch, oder aber gingen schnell in einen Hauseingang. Sie taten dies, weil sie gelernt hatten, daß wir, also ich, sie verprügeln würden, wenn sie es nicht täten. Es änderte nicht das geringste hieran, daß ich - und noch so mancher von uns - selber vor den Fahnen in die Hauseingänge floh, wenn wir nicht gerade hinter ihnen zu marschieren hatten. jetzt marschierten wir hinter ihnen und wirkten damit allein als stillschweigende Prügeldrohung auf jeden Passanten. Und jeder grüßte oder floh. Aus Angst vor uns. Aus Angst vor mir.

Noch heute wird mir schwindlig, wenn ich diese Situation durchdenke. Sie enthielt in einer Nußschale das ganze Dritte Reich.

Jüterbog ist eine Garnisonstadt im Süden der Mark Brandenburg. Eines schönen Herbstmorgens fanden wir uns dort auf dem Bahnhof ein, fünfzig oder hundert junge Leute, aus allen möglichen Gegenden Deutschlands zusammengeweht, Mäntel über dem Arm, Koffer in der Hand und leichte Verlegenheit in den Mienen. Keiner wußte eigentlich, was man mit uns vorhatte; jeder fragte sich ein bißchen, was wir eigentlich hier sollten. Wir wollten unser Assessorexamen machen und fanden uns zu diesem Zweck plötzlich höchst ungefragt an diesen ungastlichen Provinzbahnsteig bestellt. Gegen die "weltanschauliche Schulung" , die uns versprochen war, mochte sich mancher mit stiller Reserve und Ironie gewappnet haben. Aber keiner hatte sich wahrscheinlich im voraus genau die komische, befremdlich abenteuerliche Situation ausgemalt, wie wir hier mit unsern Köfferchen in irgendeiner entlegenen Gegend herumstanden und keiner andern Aufgabe als der, uns an einem Fleck, genannt "Neues Lager", den keiner kannte, einzufinden, zu Zwecken, die ebenfalls keinem ganz klar waren ...


Sebastian Haffner: Erinnerungsbuch; entstanden 1939



Quelle:

05/02/02

DIE ZEIT





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