Kinder wissen nicht immer, was für sie
gut ist

Dr. Bernd Ahrbeck




Interview mit Professor Dr. Bernd Ahrbeck. Er ist Leiter der Abteilung Verhaltensgestörtenpädagogik am Institut für Rehabilitationswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin.



Professor Dr. Bernd Ahrbeck,



49 Jahre. Studium der Psychologie und Erziehungswissenschaften in Hamburg. Promotion in Psychologie ("Familie und Rehabilitation psy­chisch Kranker"), Habilitation in Behindertenpädagogik zur lden­titätsproblematik gehörloser Men­schen ("Gehörlosigkeit und Iden­tität"). Seit 1994 Lehrstuhl für Ver­haltensgestörtenpädagogik. Psycho­analytiker (DPG, DGPT).

Arbeitsschwerpunkte: Verhaltensge­störtenpädagogik, Psychoanalyti­sche Pädagogik und Rehabilitation Behinderter und chronisch Kranker. Letzte Buchveröffentlichung: "Kon­flikt und Vermeidung", Luchterhand 1998



Viele Menschen haben Angst, weil Jugendliche immer mehr zu Gewalt und Kriminalität neigen. Warum werden so viele Jugendliche kriminell?



Dafür gibt es ganz unterschiedliche Gründe. Der gesellschaftliche Wandel, mit sich verändernden sozialen Strukturen und einer hohen Jugend­arbeitslosigkeit, spielt dabei eine wichtige Rolle. Er stellt aber nur eine sehr allgemeine Rahmenbedingung dar, ist nur ein Einflußfaktor unter vielen. Der hartnäckige Hinweis auf eine mißliche äußere Realität führt häufig zu einem zeitdiagnostischen Etikett, das viel zu grob gestrickt ist: Massiv gewalttätige und kriminelle Jugendliche verhalten sich nämlich durchaus untypisch für den sozialen Hintergrund, dem sie entstammen. Die meisten Kinder aus armen Eltern­häusern werden, und das wird häufig übersehen, weder kriminell noch ent­puppen sie sich als brutale Gewalttä­ter. Andererseits finden sich Gewalt­taten und Kriminalität auch dort, wo Kinder und Jugendliche unter sozial privilegierten Verhältnissen aufwach­sen.



Es darf nicht übersehen werden, daß delinquente Jugendliche sehr häufig eine Fülle psychischer Beeinträchti­gungen aufweisen. Oft sind sie aggressiven Impulsen hilflos ausgelie­fert, und sie können die äußere Rea­lität nur schwer beurteilen. Zudem verfügen sie kaum über Möglichkei­ten, sich mit ihren Taten innerlich auseinanderzusetzen. Ein sorgendes Verhältnis zu sich selbst besteht nicht, ebenso wenig wie gegenüber ande­ren, die sie brutal und abschätzig behandeln. Es handelt sich also um Menschen, die mit sich selbst nicht zurechtkommen und auch nicht mit ihrer Umwelt. Und die Umwelt nicht mit ihnen.



Vermittelt unsere Gesellschaft zu wenige Werte?



Sicherlich. Was nach 1968 als begrüßenswerte Lockerung rigider Wertevorstellungen begann, hat inzwischen zu einer allzu weitgehen­den Relativierung von Werten geführt. In einer permissiven Gesell­schaft haben Begriffe wie Scham, Würde und Anstand scheinbar ihre Gültigkeit verloren. Eine besonders unrühmliche Rolle spielen dabei die Medien: Sie erzählen keine Geschich­ten mehr und bieten kaum noch Sinnzusammenhänge an, die für den Einzelnen bedeutungsvoll sein könn­ten. Statt dessen dominiert die Dar­stellung erregender Sensationen, die kurzzeitig wechseln und keinen inne­ren Bezug mehr ermöglichen.

Doch auch hier sollte man sich vor dem verführerischen Charme einfa­cher Antworten auf komplexe Fragen hüten. Allein aufgrund von Medieneinflüssen wird niemand kri­minell oder gewalttätig. Von ent­scheidender Bedeutung sind Bezie­hungserfahrungen im Elternhaus sowie in der Schule. Eltern, Erzieher und Lehrer verfügen bei weitem nicht über eine so ungesicherte VVertewelt, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Häufig liegt das Problem an einer anderen Stelle: Die Erwachse­nengeneration vertraut zu sehr auf die inneren VVachstumskräfte der Kin­der, so daß sie selbst ihren Erzie­hungsauftrag weitgehend relativiert. Sie vermeidet die Auseinandersetzung mit den Heranwachsenden und damit auch die Konfrontation mit den eige­nen Werten. Dies führt dazu, daß viele Kinder und Jugendliche orientierungslos bleiben und keinen inneren Halt finden.



Sollte man Kinder und Jugendliche, die mehrmals straffällig geworden sind,"härter" anpacken?



Eine Gesetzesverschärfung dürfte nur wenig bewirken. Es kommt vielmehr darauf an, daß der bestehende Geset­zesrahmen ausgenutzt wird. Dies ist häufig nicht der Fall. Als äußerst pro­blematisch erweist es sich, wenn weg­gesehen und auf Gesetzesübertretun­gen überhaupt nicht reagiert wird. Denn dadurch laufen die Kinder und Jugendlichen ins Leere. Sie erfahren keine äußere Korrektur, bekommen kein Gefühl für ihre soziale Gefähr­lichkeit. Und sie erhalten keine Mög­lichkeit, sich mit den problematischen Seiten ihrer Person auseinanderzuset­zen. Tiefere psychische Strukturen werden sich so nicht entwickeln.



Die Heimerziehung und hier insbesondere die geschlossenen Einrichtungen stehen derzeit besonders in der Diskussion. Welchen Stellenwert räumen sie diesen Institutionen ein?



Dissoziale und delinquente Jugendl­eche wurden allzulange fast aus­schließlich als Opfer sozialer Umstän­de gesehen. Sie sind jedoch beides, Opfer wie Täter - also auch Men­sehen, die andere rücksichtslos schä­digen, weil sie mit sich selbst nicht zurechtkommen. Ein reines VVegsch­ließen hilft allerdings kaum weiter. Eine geschlossene Unterbringung wird vielmehr als pädagogisch-thera­peutische Intensivbetreuung drin­gend benötigt. Sie ermöglicht es ent­gegen landläufiger Meinung, daß Erziehungsprozesse überhaupt erst wieder in Gang kommen. denn jugendliche Täter brauchen die Aus­einandersetzung mit konturierten Bezugspersonen, die ihnen nicht aus­weichen und reale Möglichkeiten haben, ihnen wirkungsvoll Grenzen zu setzen.



VVas empfehlen sie Eltern, die heranwachsende Kinder haben?



Sich Zeit für die Kinder zu nehmen. Sich mit ihnen auseinanderzusetzen, auch dann, wenn es unbequem wird. Denn nicht immer wissen die Kinder am besten, was gut für sie ist.





  

Quelle:

01/10/98

Gruß aus Rummelsberg






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