KRISTALLNACHT”

Gedanken zum 9. November 1938

 


Das staatlich organisierte Morden und Brandschatzen am 9. und 10. November 1938 fand in aller Öffentlichkeit statt. Kaum einer der Zuschauer hat später bestritten, er habe brennende Synagogen, zerstörte Geschäfte, geplünderte Wohnungen, die Jagd auf Juden gesehen. Viele aber leugnen, sie hätten je etwas von der späteren industriellen Ermordung von Menschen gewusst. Die Aussage"Davon wussten wir nicht" wirft die Frage auf, was gewesen wäre, wenn man das infernalische Verbrechen gekannt hätte. Wäre das eigene Verhalten ein anderes gewesen, distanzierter, kritischer, gar subversiver?

Das lässt sich nicht beantworten, wohl aber die Frage, welche Einstellung zum Nazistaat diese Menschen von dem Augenblick an hatten, als sie vom Ausmaß seiner Verbrechen erfahren. 1946 fanden in der amerikanischen Besatzungszone Umfragen statt. Sie ergaben, dass 60 Prozent manifest rassistisch und antisemitisch, weitere 20 Prozent stark nationalistisch eingestellt waren - obwohl das Jahrhundertverbrechen nunmehr bekannt war.

Die Kenntnis von der Dimension des Völkermordes hat also keineswegs rassistische Einstellungen rasch beseitigt. Offenbar waren mehr Menschen, als allgemein angenommen oder bisher eingestanden, Mitläufer, Profiteure oder Täter ungewollt - gewollt Komplizen. Anfang der fünftiger Jahre stufte sich noch ein Drittel der Bevölkerung der Bundesrepublik selbst als antisemitisch ein. Mitte der siebziger Jahre waren 20 Prozent manifeste Antisemiten, zurzeit liegt der Anteil bei 15 Prozent. Das mag zumal rechtsextremistische Parteien bei Bundestagswahlen erfolglos blieben - eher tröstlich als bedrohlich erscheinen. Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Zunächst sei daran erinnert: 15 Prozent der gesamtdeutschen Bevölkerung sind 12 Millionen Menschen. Noch immer stimmt ein beachtlicher Teil antijüdischen Aussagen zu, bei einem harten
Kern hat sich dies zum geschlossenen antisemitischen Weltbild verdichtet. Seit der deutschen Neuvereinigung ist dieser Anteil verhältnismäßig konstant geblieben, während die rechtsextremistischen Straftaten dramatisch zunahmen. Waren es 1990 rund 180 Straftaten, schnellten sie 1992 auf nahezu 1500 hoch und haben sich nun bei 700 bis 800 jährlich eingependelt. Eine Vervierfachung im Vergleich zum Jahr der Neuvereinigung. Auch Bekenntnisse zu nationalistischem Gedankengut scheinen in Teilen der Bevölkerung gesellschaftsfähig zu werden. Natürlich stellt der parteipolitische Extremismus für die deutsche Demokratie ebenso wenig eine Gefahr dar wie die 9000 gewaltbereiten Rechtsextremisten. Anlass zur Sorge geben eher jene 12 Millionen Deutsche, die das ideologische Umfeld dieser Parteien und Schlägertrupps bilden. Die bloße Existenz dieses Umfelds bestärkt Extremisten in ihrer Oberzeugung, berufene Vollstrecker von Millionen Deutschen zu sein.

Solange sich politische Interventionen auf die Spitze des Eisbergs konzentrieren, wird das eigentliche Problem - jene 12 Millionen antisemitisch und fremdenfeindlich eingestellten Deutschen - bestehen bleiben. Denn nach wie vor ist, einem abgewandelten Wort Adornos zufolge, das Nachleben nationalsozialistischen Gedankengutes in der Demokratie potenziell bedrohlicher als neonazistische Tendenzen und Gewalttaten gegen die Demokratie.

Während gegen Letztere kurzfristig Interventionen möglich sind, handelt es sich bei Ersterem um ein Langzeitphänomen, das schwer zu handhaben ist. Dabei wird man sich auch künftig mit diffusen Vorstellungen auseinandersetzen müssen, etwa darüber, was - mit oder ohne Leitkultur - unter "deutsch" zu verstehen sei. Das Problem wird weiter schwelen, weil diese Bezeichnung schon immer (und immer noch) ein ethnisch-völkisches Nationalverständnis ausdrückt. Dieses wird von seinen Anhängern nicht als einst Gewachsenes und damit als veränderbar betrachtet, sondern als naturgegeben.

Es hat den Anschein, als müssten wir auf Dauer mit jenen 15 Prozent leben, deren antisemitische und rassistische Einstellung sich kaum verändert. Die Auseindersetzung mit diesen Menschen muss auch künftig mit politischen Mitteln geführt werden. Diese Mittel versagen freilich dort, wo Parteien oder militante Gruppen nicht den demokratischen Meinungsstreit, sondern die Abschaffung seiner Voraussetzungen anstreben. Wenn der Staat an dieser Stelle seine juristischen Möglichkeiten und sein Gewaltmonopol nicht konsequent nutzt, bestärkt er nur jene, die ihn abzuschaffen trachten. Die meisten Rechtsradikalen, vor allem die Mitläufer, sind auf autoritäre Führung angewiesene, sind schwache Persönlichkeiten. Sie betrachten Milde und zur Bewährung ausgesetzte Strafen als Schwäche, sie sind nur von einem Stärke demonstrierenden Staat zu beeindrucken. Menschen, die Menschen jagen, müssen auf absehbare Zeit so weit kriminalisiert werden, dass sie das Gefühl haben, von der Zivilgesellschaft verachtet zu werden - von jenen, die sie "Volle' nennen.

  

Quelle:

Feb 01

DIE ZEIT





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