ZEIT ONLINE   31/2008 S. 18   [http://www.zeit.de/2008/31/Klein-31]
 

"Wir alle sind nur Sternenstaub"

sternenstaub«

Martin Rees, Hofastronom der Queen und Professor in Cambridge, erklärt, warum unser Universum vermutlich Geschwister hat und was es mit Schwarzen Löchern auf sich hat

Astronomie

Stefan Klein ist promovierter Biophysiker. Der 42-Jährige hat die Bestseller "Die Glücksformel" und "Zeit. Der Stoff, aus dem das Leben ist" geschrieben. Klein führt für das ZEITmagazin regelmäßig Gespräche mit Wissenschaftlern: über die großen Fragen, auf die wir keine letzten Antworten haben. Diesmal spricht er mit Martin Rees, dem letzten europäischen Hofastronom.

Rees gehört er dem Hofstaat des Hauses Windsor an und soll Ihre Majestät, Königin Elisabeth II. von England, in "astronomischen und wissenschaftlichen Fragen" beraten. An einem Teleskop saß Rees während der 40 Jahre seiner Karriere nur in der Freizeit: Er hat sich als Theoretiker und nicht zuletzt mit seinen geistreichen Spekulationen einen Namen gemacht. Als reiche das prestigegeladene Amt des Astronomer Royal nicht aus, steht er seit drei Jahren auch der Royal Society vor, der ältesten Gelehrtengesellschaft der Welt. Und die Queen hat ihn zum Baron Rees of Ludlow erhoben, sodass er nun auch im House of Lords Politik machen kann. Seinen Besucher empfängt Rees im Palais der Royal Society in unmittelbarer Nähe des Buckingham Palace. Über seinem Arbeitstisch hängt ein riesiges Ölgemälde von Sir Isaac Newton, der auch einmal der Gesellschaft vorstand. Es gibt Tee.

Stefan Klein: Professor Rees, was macht ein Hofastronom?

Martin Rees: Ach, das ist nur ein Ehrentitel. Er geht auf das Jahr 1675 zurück, als der königliche Astronom dem Observatorium von Greenwich vorstand. Heute sind die Pflichten dieses Amtes dermaßen spärlich, dass man es eigentlich auch posthum ausüben könnte.

Klein: Ihre Untersuchungen an Quasaren haben entscheidende Hinweise auf den Urknall gegeben. Haben Sie der Queen schon einmal erklärt, was ein Quasar ist?

Rees: Wir haben uns nie darüber unterhalten. Wenn ich die Gelegenheit dazu hätte, würde ich ihr sagen, dass es sich um riesige Schwarze Löcher im Zentrum von Galaxien handelt. Diese saugen Gas ein, das stärker als alles andere im Kosmos leuchtet, bevor es in das Schwarze Loch stürzt – heller als tausend Milliarden Sonnen.

Klein: Und was hat das mit dem Urknall zu tun?

Rees: Wir standen vor dem Rätsel, weshalb man umso mehr Quasare findet, in je größerer Entfernung von der Erde man sucht. Mit meinem Kollegen Dennis Sciama konnte ich zeigen, dass die Urknalltheorie die richtige Antwort gibt: Die meisten Quasare entstanden im jungen Universum. Und weil das All sich ausdehnt, sind sie sehr weit von uns entfernt. Das war 1965.

Klein: Heute wissen wir, dass Quasare tatsächlich zu den ältesten sichtbaren Objekten im Weltraum gehören: Erst vor Kurzem wurden Quasare entdeckt, die vor mindestens 13 Milliarden Jahren entstanden. Was fasziniert Sie so an diesem Phänomen?

Rees: Die Physik am Rand eines supermassiven Schwarzen Lochs ist sehr interessant. Da können wir Einsteins Theorien testen, und es ergeben sich bemerkenswerte Effekte. So werden oberhalb und unterhalb des Gasstrudels Materieströme mit enormer Geschwindigkeit ins Weltall gestoßen. Der vor Kurzem verstorbene Arthur Clarke, der das Science-Fiction-Buch 2001 – Odyssee im Weltraum verfasste, fragte mich einmal, ob diese Jets nicht auch die Hervorbringung einer höchst entwickelten Zivilisation sein könnten.

Klein: Wenn aber die Quasare bald nach der Geburt des Universums entstanden, hätte eine in ihrer Nachbarschaft lebende Zivilisation schwerlich Zeit gehabt, um sich zu entwickeln.

Rees: Das ist ein Problem. Aber die Jets findet man auch bei anderen, neueren supermassiven Schwarzen Löchern.

Klein: Wollten Sie schon immer das Universum erforschen?

Rees: Überhaupt nicht. Ich begann als Mathematiker, um ein Haar wäre ich statt in die Astrophysik in die Wirtschaftswissenschaften gegangen!

Klein: Ich selbst habe einmal erwogen, Astrophysiker zu werden. Aber mit meinen damals 25 Jahren erschienen mir die Sterne zu weit weg – wo es doch so viel Erstaunliches direkt unter unseren Augen zu erforschen gab.

Rees: Die Sterne sind uns viel näher, als Sie damals vielleicht dachten. Dort herrschen dieselben Naturgesetze wie auf der Erde, nur unter extremen Bedingungen. Immerhin ist der Kosmos unser Lebensraum. Mit sämtlichen Menschen, die je gelebt haben, teilen wir denselben Blick auf die Sterne. Und schließlich sind wir selbst Sternenstaub.

Klein: Wie alles auf der Erde bestehen wir aus den Überresten längst erloschener Himmelskörper.

Rees: So ist es. Sämtliche Elemente entstanden in den Sternen durch Kernfusion aus Wasserstoff und Helium. Wenn Sie weniger romantisch veranlagt sind, können Sie die Menschen auch als stellaren Atommüll bezeichnen.

Klein: Es müssen aufregende Zeiten sein für jeden, der das Weltall erforscht. "Die Kosmologie erlebt eine Revolution", hat Ihr Kollege Charles Bennett vor Kurzem erklärt.

Rees: So ist es. Dank neuer Teleskope, aber auch dank der Rechenleistung von Supercomputern können wir heute die Entstehung des Universums mindestens zwölf Milliarden Jahre zurückverfolgen. Damit verstehen wir, wie aus einem ungeordneten Zustand die ersten Sterne und Galaxien entstanden und wie sie sich bis in die Gegenwart entwickelten. Noch aufregender finde ich, dass wir seit gut zehn Jahren einen Planeten außerhalb unseres Sonnensystems nach dem anderen entdecken. Ich hoffe, dass wir bald einen erdähnlichen Planeten aufspüren werden.

Klein: Mit genau diesem Ziel will die Nasa im kommenden Februar ihre Raumsonde Kepler ins All schießen.

Rees: Damit eröffnen sich neue Perspektiven. Die jetzigen Instrumente erkennen nämlich nur Riesenplaneten von der Größe ungefähr des Jupiters. Leben könnte es zwar auch dort geben. Aber noch interessanter wäre ein Planet, auf dem es so aussieht wie auf der Erde zu der Zeit, als das Leben entstand.

Klein: Wie stehen die Chancen?

Rees: Planeten wie den unseren werden wir wohl finden. Ich bezweifle allerdings, dass wir in nächsten 20 Jahren schon genug Hinweise auf Biosphären dort haben werden. Trotzdem: Auf Leben irgendwo in der Milchstraße würde ich wetten – und erst recht auf Leben in anderen Galaxien.

Klein: In den weitaus größten Teil des Kosmos können selbst die besten Teleskope nicht vordringen. Denn diese Regionen sind so weit entfernt, dass das Licht seit der Entstehung des Universums nicht genug Zeit hatte, um zu uns zu reisen.

Rees: Das ist, wie wenn Sie auf hoher See den Mast eines Schiffes erklettern. Sie sehen nur bis zum Horizont, müssen aber annehmen, dass sich der Ozean dahinter sehr viel weiter erstreckt.

Klein: Nach den Daten aber, die zwei Forschungssatelliten namens COBE und WMAP in den letzten Jahren lieferten, müssen wir annehmen, dass das All viele Tausend Mal größer ist als der kleine Bereich, den wir sehen. Was mag sich in diesen verborgenen Regionen abspielen?

Rees: Die Satellitenmessungen deuten darauf hin, dass es hinter dem Horizont noch sehr lange so weitergeht wie im sichtbaren Kosmos. Aber sicher können wir natürlich nicht sein.

Klein: Wie kann man angesichts dieser Dimensionen an der Existenz von außerirdischem Leben noch zweifeln? Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwo Leben aufkeimt, mag ja verschwindend gering sein. Betrachtet man aber die unzähligen Sonnensysteme des Kosmos, erscheint es doch so gut wie sicher, dass es wiederholt geschah.

Rees: Sie haben recht. Zudem werden wir durch biologische Experimente in den nächsten zwei Jahrzehnten hoffentlich mehr darüber erfahren, wie aus toter Materie Leben entsteht. Allerdings ist es zumindest logisch nicht ausgeschlossen, dass wir in unserer Galaxie allein sind.

Klein: Sie haben einmal erklärt, dass es Ihnen lieber so wäre. Warum?

Rees: Weil es uns ein Stück kosmisches Selbstbewusstsein rauben würde, wenn außer uns noch andere da wären. Andererseits wäre eine belebte Milchstraße natürlich viel interessanter.

Klein: Aber ist die Menschheit so reif, dass sie die Nachricht, in kosmischer Gesellschaft zu sein, verkraften würde?

Rees: Ich denke nicht, dass diese Erfahrung sehr traumatisch ausfallen müsste. Vielleicht kämen ihre kulturellen Folgen ungefähr denen der Entdeckung Amerikas gleich.

Klein: In Stanisław Lems Roman Solaris entdecken Forscher auf einem fernen Planeten einen sonderbaren Ozean. Dieser stellt sich als ein mit Intelligenz begabter Organismus heraus, aber die Wissenschaftler finden keinen Weg, sich mit ihm zu verständigen. Die Unterschiede zwischen den Menschen und dieser Lebensform sind zu groß – ein plausibles Szenario.

Rees: Vielleicht gibt es tatsächlich Lebensformen und Intelligenzen, die wir noch nicht einmal als solche erkennen. Ebenso gut möglich ist es aber, dass uns andere Zivilisationen absichtlich eine Botschaft senden. Doch viel eher dürften wir wohl auf sehr einfache Lebensformen stoßen – oder auch nur auf deren Überreste.

Klein: Dahinter steht eine grundsätzliche Frage: Weshalb ist das Universum so, dass in ihm überhaupt Leben aufkommen konnte?

Rees: Natürlich. Man kann sich jede Menge Universen ausdenken, in denen Leben von vornherein ausgeschlossen ist. Das unsere hingegen ist sehr fein austariert. Bestünde es zum Beispiel aus weniger Elementarteilchen, könnten keine komplexen Strukturen entstehen. Enthielte es hingegen zu viel Materie, dann wäre der ganze Kosmos schnell wieder in sich zusammengestürzt. Und mit einer nur ein wenig stärkeren Gravitation wären die Sterne viel kleiner und würden ausbrennen, lange bevor Leben entstehen kann.

Klein: Diese geradezu unglaubliche Balance, die alles erst möglich machte, vermag die heutige Kosmologie nicht zu erklären.

Rees: Darin liegt eine der wichtigsten Aufgaben für die Wissenschaft im 21. Jahrhundert: herauszufinden, ob wir diese Konstanten erklären können – oder ob wir sie einfach hinnehmen müssen.

Klein: Einstein, Heisenberg und viele andere Physiker haben nach einer »Weltformel« gesucht. Sie sind gescheitert.

Rees: Aber die meisten Kollegen hoffen noch immer, dass sich dieser Traum eines Tages erfüllt.

Klein: Eine Möglichkeit wäre, dass unser Universum nur eines von vielen ist. Es hat Geschwister.

Rees: Ja.

Klein: Die allermeisten davon sind unwirtlich. In manchen Universen aber – darunter dem unseren – sind die Naturkonstanten zufällig so beschaffen, dass es Leben geben kann.

Rees: Das ist ungefähr so, wie Sie nicht unbedingt einen Maßanzug brauchen, um gut auszusehen. Sie müssen nur in ein großes Bekleidungshaus gehen. Wenn dieses genug Auswahl hat, finden Sie immer ein Sakko von der Stange, das passt. Ganz analog wäre auch in einer großen Kollektion an Universen mit hoher Wahrscheinlichkeit eines dabei, auf dem die Entstehung von Leben möglich ist.

Klein: Die Schöpfung als riesiges Shoppingcenter – so habe ich es noch nie gehört. Die Frage bleibt natürlich: Wer oder was hat die Kollektion entworfen?

Rees: Mehreren glaubhaften Theorien zufolge ist die Beschaffenheit eines Universums nicht nach einem von Beginn an feststehenden Plan gegeben, sondern wird während eines Urknalls zufällig festgelegt.

Klein: Sie meinen die Inflationstheorie, die es in verschiedenen Spielarten gibt. Die gängigste Vorstellung ist, dass sich das Universum am Beginn der Zeit schlagartig aufgebläht hat. Erst war es weitaus kleiner als ein Atom, dann plötzlich annähernd so groß wie heute.

Rees: Ganz genau. Nun muss man wissen, dass es in der subatomaren Welt zufällige Schwankungen gibt, die sogenannten Quantenfluktuationen. Als sich während der Inflation der ganze Raum ausdehnte, wurden auch diese Fluktuationen auf kosmischen Maßstab vergrößert…

Klein: …und bildeten sozusagen die Grundlage für alle späteren Strukturen im Universum.

Rees: Ja, darauf deuten die Daten, die wir in den letzten Jahren gewannen, tatsächlich hin.

Klein: Nach manchen Varianten der Inflationstheorie gab es nicht einen Urknall, sondern viele davon. Und bei jedem entstand ein neues Universum. Sie alle existieren nebeneinander. Das unsere wäre dann nur ein Teil einer ganzen Galerie von Universen – dem Multiversum.

Rees: Eben. Die Naturgesetze, die das Leben ermöglichen, würden dann nur in unserer Provinz gelten.

Klein: Erstaunlich ist, wie die sogenannte chaotische Inflationstheorie die Geburt eines Universums beschreibt: Der leere Raum ist von einer Energie erfüllt, die unter bestimmten Bedingungen eine Inflation auslösen kann. Dann bläht sich ein Kosmos auf, als entstünde eine Welt aus dem Nichts. Die Einsteinschen Gleichungen geben das her. Irritierend finde ich die Vorstellung trotzdem.

Rees: Statt "aus dem Nichts" sollte man besser "eine Welt aus dem Vakuum" sagen. Denn der leere Raum ist eben nicht nichts. Aber das ist doch nur eine Möglichkeit. Auch in Schwarzen Löchern könnte sich der Raum öffnen und ein neues Universum bilden.

Klein: Dieses neue Weltall hätte überhaupt keine Verbindung zu unserem mehr…

Rees: Nein.

Klein: …wie lässt sich dann feststellen, dass es überhaupt existiert?

Rees: Wir werden die anderen Universen nie direkt sehen können. Aber die chaotische Inflationstheorie macht noch weitere Voraussagen – etwa über die Natur der Schwerkraft in unserem Universum –, die sich sehr wohl überprüfen lassen. Wenn die alle zutreffen, ist anzunehmen, dass die ganze Theorie stimmt. Schwarze Löcher sehen Sie schließlich auch nicht, trotzdem haben wir Hinweise genug, um sicher zu sein, dass es sie gibt.

Klein: Ein neues Universum hat im Moment seiner Entstehung sogar einen eigenen Anfang der Zeit. Meine Vorstellungskraft stößt da an ihre Grenzen. Wie denken Sie über solche Theorien nach?

Rees: Ich versuche mir auf dem Papier oder auch nur im Kopf Bilder zu machen – so gut es eben geht. Damit umzugehen fällt mir leichter als mit mathematischen Formeln. Also da hätten wir etwa ein Universum hier, ein anderes da, und jedes sieht aus wie ein kleines Schwarzes Loch seines Geschwisters…

Klein: Ich fürchte, das hilft mir nicht wirklich. Könnte es nicht sein, dass Menschen bei der Erforschung des Weltalls generell damit ringen, dass ihr Gehirn nicht dafür gemacht ist, diese Realität zu erfassen?

Rees: Sicherlich. Unsere Gehirne sind für das Überleben in der afrikanischen Savanne gemacht, nicht für Kosmologie.

Klein: Vielleicht hatte Einstein ja recht, und es gibt einen kosmischen Plan – doch menschliche Gehirne sind ungeeignet, ihn zu erfassen.

Rees: Es würde mich keineswegs überraschen, wenn es so wäre.

Klein: Es heißt, Sie besuchen regelmäßig den Gottesdienst.

Rees: Ich wurde als Mitglied der Kirche von England erzogen und befolge einfach die Gebräuche meines Stammes. Die Kirche ist Teil meiner Kultur, ich mag die Rituale und die Musik. Wäre ich im Irak groß geworden, so ginge ich in die Moschee.

Klein: Empfinden Sie da keinen Konflikt mit Ihrem wissenschaftlichen Weltbild?

Rees: Überhaupt nicht. Mir scheint, dass die Leute, die die Religion angreifen, sie nicht wirklich verstehen. Wissenschaft und Religion können friedlich nebeneinander existieren. Allerdings denke ich, dass sie einander nicht viel zu sagen haben. Am liebsten wäre mir, Wissenschaftler würden das Wort »Gott« gar nicht gebrauchen. Ich weiß doch, dass wir noch nicht einmal das Wasserstoffatom verstehen – wie könnte ich da an Dogmen glauben? Ich bin ein praktizierender, aber kein gläubiger Christ.

Klein: Sie sind ja auch als Forscher weder allzu geneigt zu glauben, noch scheinen Sie übermäßige Schwierigkeiten mit Widersprüchen zu haben. Unter Kollegen sind Sie dafür bekannt, dass Sie oft an zwei gegensätzlichen Theorien gleichzeitig arbeiten.

Rees: Ich finde es irrational, sein Herz an eine Theorie zu hängen. Da lasse ich verschiedene Ideen lieber wie Pferde im Rennen gegeneinander antreten und sehe zu, welche gewinnt.

Klein: Sie sind ein intellektueller Spieler.

Rees: Nein, ich suche nach der richtigen Antwort. Und dabei sind Emotionen nun einmal wenig hilfreich.

Klein: Gibt es überhaupt Themen, bei denen Sie emotional werden?

Rees: Ja, in der Politik. Ich wuchs als ziemlich altmodischer Sozialist auf. Ich bin sehr besorgt über die zunehmende Ungleichheit und darüber, dass es uns nicht gelingt, die Dritte Welt an den Vorzügen der Globalisierung teilhaben zu lassen.

Klein: Sie haben der Menschheit ein noch schlimmeres Zeugnis ausgestellt. Die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Zivilisation das 21. Jahrhundert überlebt, schätzen Sie auf gerade einmal 50 Prozent.

Rees: Es ist eine Schätzung. Ich orientierte mich an den inzwischen bekannten Gefährdungen der letzten Jahrzehnte. Während des Kalten Krieges etwa war die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Weltuntergangs alles andere als gering. Wir hatten nur Riesenglück. Innerhalb der nächsten 50 Jahre kann es zu einer neuen Konfrontation zwischen Supermächten kommen. Hinzu kommen all die Bedrohungen, die es damals noch nicht gab, etwa durch genmanipulierte Mikroorganismen.

Klein: Sie stehen auch zu Ihrer Wette, dass in den nächsten 20 Jahren eine Million Menschen bei einem Anschlag mit Biowaffen oder durch ein von der Biotechnologie verursachtes Unglück umkommen werden? Darauf haben Sie 1000 Pfund gesetzt.

Rees: Natürlich hoffe ich, dass ich die Wette verliere.

Klein: Wie haben denn die Kollegen auf Ihre Prophezeiungen reagiert?

Rees: Fast alle haben mir zugestimmt – zu meiner eigenen Überraschung. Mir scheint es unbestreitbar, dass die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts erstens von den Menschen selber ausgehen und zweitens größer sind früher. Denn dass wir so viele sind wie nie zuvor und durch Ausbeutung der Ressourcen, Klimawandel und so weiter unsere Lebensgrundlagen gefährden, ist ja noch nicht die ganze Geschichte. Zusätzliche Risiken entstehen dadurch, dass wir in einer immer stärker vernetzten Welt leben.

Klein: Sollten wir unsere Welt den Astrophysikern anvertrauen?

Rees: Nicht anvertrauen, aber auf sie hören. Immerhin sind sie es gewohnt, in sehr langen Zeiträumen zu denken. Vielen Menschen erscheint ja schon das Jahr 2050 unvorstellbar weit entfernt. Mir hingegen ist ständig bewusst, dass wir das Ergebnis von vier Milliarden Jahren Evolution sind – und dass die Zukunft der Erde mindestens noch einmal so lange dauern wird. Wenn Ihnen ständig vor Augen steht, wie viele Generationen noch auf uns folgen können, werden Sie zu vielen Fragen der Gegenwart eine andere Haltung einnehmen.

Klein: Vorausgesetzt, es gelingt, unsere Zukunft nicht zu verspielen: Haben Sie eine Vorstellung von den nächsten vier Milliarden Jahren?

Rees: Wir heutigen Menschen sind gewiss nicht der Gipfel der Schöpfung. Intelligentere Arten, als wir es sind, werden die Erde bewohnen. Sie könnten sogar schon recht bald auftauchen. Denn die Evolution wird heute nicht mehr von der langsamen natürlichen Entwicklung angetrieben, wie Darwin sie beschrieb, sondern durch die menschliche Kultur. Vielleicht wird eine postmenschliche Intelligenz also von uns selber gemacht sein. Und ich hoffe, dass unsere Nachfolger die Welt besser verstehen.

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DIE ZEIT, 24.07.2008 Nr. 31