KOSMOGONIE
- Dialog Sturm - Mosbrugger -
CHRISMON 08/08
Von Gott geschaffen, dem Tier ganz nah. Ein Paläontologe und ein Hirnforscher erklären ihr Bild vom Menschen
Volker Sturm, 64, ist Hirnchirurg an der Universitätsklinik Köln. Er hat sich einen Namen gemacht durch das Einsetzen von Hirnschrittmachern, etwa bei Parkinsonpatienten. 2005 erhielt er den Schrödinger-Preis des Stifterverbandes der Deutschen Wissenschaft.
Volker
Mosbrugger, 55,
ist Direktor des Senckenbergmuseums in Frankfurt am Main. Der
Paläontologe erforscht unter anderem klimatische Veränderungen
im Lauf der Erdgeschichte. 1999 erhielt er den Leibniz-Preis der
Deutschen Forschungsgemeinschaft.
chrismon:
Schüler wollen von Ihnen wissen, woher der Mensch stammt. Was
antworten Sie?
Volker Mosbrugger: Der
Mensch ist ein Produkt der Evolution wie jede andere Art auch. Die
Trennlinie zwischen Affen und Menschen liegt etwa sieben Millionen
Jahre zurück. Ab da entwickelt sich der Mensch, wie wir ihn
heute kennen.
Volker
Sturm: Der
Mensch ist im Wesentlichen das Produkt der Evolution. Allerdings
glaube ich, dass Gott die Evolution in Gang gesetzt und dass er an
gewissen Punkten eingegriffen hat. Das ist Glaube. Ich erhebe nicht
den Anspruch, das beweisen zu wollen.
Mosbrugger:
Ein
entscheidender Punkt. Die Wissenschaft kann Gott weder widerlegen
noch belegen. Sie ist ein in sich schlüssiges Gedankengebäude,
die Konzeption Gott liegt außerhalb dieses Gebäudes. Wenn
eine Religion ihre Grenzen nicht überschreitet, kann sie nicht
im Widerspruch zur Wissenschaft stehen.
chrismon:
Und wenn die Schüler sagen, der Pfarrer habe etwas anderes über
den Ursprung der Menschen gesagt...
Mosbrugger: ...dann
sage ich, dass die biblische Schöpfungsgeschichte den Charakter
eines Mythos hat. Sie ist ein Versuch, zu erklären, wie man sich
die Weltentstehung früher vorgestellt hat. Die Wissenschaft kann
heute einzelne Schritte der Entwicklung wirklich nachvollziehen. Das
ist, als ob Sie versuchen, die Geschichte der letzten 200 Jahre ohne
Archive zu rekonstruieren, und plötzlich bekommen Sie Zugang zu
den Büchern.
Sturm:
Die Schöpfungsgeschichte kann man auf keinen Fall wörtlich
nehmen. Wer meint, die Welt sei in sechs Tagen erschaffen worden, hat
seine Bibel schlecht gelesen. Bei Gott sind tausend Jahre wie ein
Tag. Das ist ein Bild. Die Evolution beläuft sich auf vier
Milliarden Jahre. Es geht um Zeitbegriffe, denen wir uns mit unserem
Verstand nicht nähern können.
chrismon:
Herr Mosbrugger, einer Ihrer Vorträge trägt den Titel
"Schöpfung ohne Schöpfer". Was heißt für
Sie Schöpfung?
Mosbrugger: In
unserem Kulturkreis wächst man mit dem Begriff auf. Die Natur
bewundern, das kennen wir alle. Wenn man von Evolution nichts
versteht, liegt der Gedanke nahe: Das muss ein wunderbarer Künstler
gemacht haben. Aber ich kann es wunderbar erklären. Ich brauche
dazu den Schöpfer nicht. Nur wenn es um Transzendenz geht, habe
ich für ihn Platz. Da hat die Wissenschaft nichts verloren, da
bin ich in der Region des Glaubens.
chrismon:
Herr Sturm, Sie nennen das Gehirn eine der faszinierendsten
Schöpfungen. Warum?
Sturm: Weil
ich glaube, dass Gott die maßgebliche Rolle spielt, nicht nur
in der Entwicklung des Menschen, sondern bei der Entstehung der Welt.
Der Mensch ist die Krone der Schöpfung, und die Krone des
Menschen ist das Gehirn. Je länger ich mich damit beschäftige,
desto größer wird mein Respekt davor, desto größer
meine Bewunderung vor dem, der das letztlich erschaffen hat.
Mosbrugger:
Hier
zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen uns. Ich sage: Auch das
Gehirn ist ein Produkt der Evolution, so wie der Mensch als Ganzes.
Das schließt die Aussage ein: Die Erkenntnisfähigkeit
dieses Gehirns ist begrenzt.
Sturm:
So
ist das.
Mosbrugger:
Eines
meiner Lieblingstiere ist die Ameise, weil es so ein kleines Tier ist
und hochkomplexe soziale Gebilde baut. Die Erkenntnisfähigkeit
eines Ameisengehirns ist beschränkt. Das gilt für uns
genauso. Wir sind Tiere wie andere auch. Wir können mit unserem
Gehirn nur das erkennen, was sich im Lauf der Evolution als nützlich
für uns erwiesen hat. Wenn ich überzeugt wäre, dass
Gott mein Gehirn geschaffen hätte, würde ich erwarten, dass
er es perfekt macht, so dass ich alles erkennen kann.
Sturm:
Warum
besagt die Annahme, Gott habe unser Gehirn geschaffen, dass wir die
komplette Erkenntnisfähigkeit besitzen?
Mosbrugger:
Ich
würde Gott fragen: Warum erkenne ich, dass zwei und zwei vier
ist, aber nicht, dass es dich wirklich gibt?
Sturm:
Am meisten fasziniert mich die Erschaffung des Menschen, also der
Zeitpunkt, als das Gehirn die komplexen Fähigkeiten erlangt hat,
die ihm erlauben, sich seiner selbst bewusst zu werden, frei zu
entscheiden, Empathie zu empfinden. Wann war der - beim Neandertaler,
dem Homo habilis, Homo erectus oder Australopithecus? Die Geschichte
vom Paradies erzählt, wie der Mensch einen freien Willen bekam.
Erst nachdem er vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte, wurde er sich
seiner selbst bewusst. Er sah, dass er nackt war. Das wusste er
vorher nicht. Er hatte vorher kein Selbstbewusstsein. Dann konnte er
frei entscheiden: Geht er seinen Weg oder den von Gott vorgegebenen?
Mosbrugger:
Beim
Menschen soll in der Evolution etwas grundlegend anderes vorgegangen
sein als bei den Tieren? Welche Indizien gibt es dafür? Sie
nehmen ein Eingreifen Gottes an. Aber es war ein kontinuierlicher
Prozess. Deshalb kann ich nicht genau sagen, wann der Mensch die
Fähigkeiten erreichte, die wir ihm zuschreiben. Der Pfiff an der
Geschichte: Solange keine kulturelle Evolution stattfindet, bin ich
als biologisches Wesen komplett der Natur ausgesetzt. Sobald ich aber
ein Gehirn besitze, das mir erlaubt, Werkzeuge zu machen, kann ich
mich von der Natur lösen. Wenn diese Entwicklung einsetzt, hat
man einen Vorsprung gegenüber anderen Viechern. Das war der
Schritt zum Menschen.
Sturm:
War
es nicht ein großer Sprung vom Neandertaler zum Homo sapiens
sapiens, der sich in nur 60 000 Jahren vollzog?
Mosbrugger:
Es
gibt keinerlei Hinweise, dass es beim Auseinandergehen von Sapiens
sapiens und Neanderthalensis extreme Sprünge gab. Entscheidend
sind auch nicht die Jahre, sondern die Generationszeiten. Das
Bakterium hat eine Generationszeit von ein paar Minuten, da sind ein
paar Wochen so viel wie für uns zigtausend Jahre. Der Mensch hat
eine Generationszeit von zwanzig, dreißig Jahren. Wir
Evolutionsbiologen rechnen in Größenordnungen von
hunderttausend Generationen, damit sich in einer großen
Population substanziell etwas verändern kann.
chrismon:
Herr Sturm, vermuten Sie, dass Gott bei der Menschwerdung seine Hand
im Spiel hatte?
Sturm: Damit
wir uns nicht missverstehen. Ich glaube nicht, dass Gott erst zu
diesem Zeitpunkt seine Hand im Spiel hatte. Sondern dass er die Welt
und das Leben erschaffen hat.
Mosbrugger:
Für
mich als Wissenschaftler ist das inkonsistent. Das wäre, wie
wenn ich eine Gleichung löse: zwei plus zwei gleich vier, und
behaupte, die Lösung für die Gleichung zwei hoch drei, die
käme von Gott.
Sturm:
Was
ist inkonsistent daran, dass Gott die Evolution angestoßen hat
und an einem bestimmten Punkt eingegriffen hat?
Mosbrugger:
Da
sind wir jetzt an den Erkenntnisgrenzen.
(Beide lachen)
Sturm:
Das ist Glaube.
Mosbrugger:
Innerhalb
meiner wissenschaftlichen Welt hat Gott nichts verloren. Platz ist
für Gott jenseits dessen, was wir erkennen können. Vor 13,
7 Milliarden Jahren war der Urknall. Die Frage ist trotzdem, was
davor war. Wie kam es dazu? Wer hat die Evolution angestoßen?
Wir sind ein winzig kleiner Teil des Universums. Wir bilden uns viel
darauf ein, was wir alles können. Wir senden Teleskope ins All.
Trotzdem geschieht das in der Größenordnung einer Ameise.
Sturm:
Was
mir gut gefällt ist, dass Sie im Gegensatz zu vielen
Neurowissenschaftlern auf die begrenzte Erkenntnisfähigkeit des
Menschen verweisen. Je länger ich mich mit dem Gehirn
beschäftige, umso deutlicher sehe ich, wie wenig wir davon
wissen. Gleichzeitig lese ich, bald wäre unser Gehirn
entschlüsselt, man würde Computer entwickeln, die das
Gehirn nachbilden und uns eine Art Unsterblichkeit verleihen. Das ist
unwissenschaftlich.
Mosbrugger:
Für mich wird da Wissenschaft zum Religionsersatz, und deswegen
gerät sie in Widerspruch zu sich selbst. Wissenschaft kann nicht
alles erklären. Aber genauso hat die Religion in der
Wissenschaft nichts zu suchen.
chrismon:
Die christliche Religion schreibt dem Menschen Einzigartigkeit zu. Zu
Unrecht?
Mosbrugger: Das
ist die anthropozentrische Sicht. Fragen Sie mal eine Ameise, was sie
für das wichtigste Tier hält! Der Pottwal ist genauso
einzig. Kein Säugetier kann so tief tauchen wie er.
Sturm:
Der
Mensch ist einzigartig aufgrund der Komplexität seines Gehirns.
Die 1340 Gramm Hirnmasse enthalten 100 Milliarden Nervenzellen, jede
dieser Zellen hat zwischen 1000 und 10 000 synaptische
Kontaktmöglichkeiten. Ich interessiere mich für
Neurowissenschaften, aber auch für Fußball. Deshalb habe
ich die Physiker an meiner Klinik gebeten, mal auszurechnen, welche
möglichen Tabellenkonstellationen es bei 18 Vereinen in der
Bundesliga gibt. Es sind 6,4 Billionen. Die potenziellen
Verschaltungsmöglichkeiten im Gehirn sind nahezu unbegrenzt. Sie
überschreiten die Summe aller Atome des Universums bei weitem.
Mosbrugger:
Der
Mensch hebt sich zu Unrecht heraus, entweder als der Böse, der
die Welt kaputt macht, oder als Gott, der die Welt beherrscht,
anstatt zu sehen, was man wirklich ist: eine Art unter wahrscheinlich
hundert Millionen.
Sturm:
Wir
sollten unsere Fähigkeiten, die wir im Lauf der Evolution
erworben haben - oder die uns Gott gegeben hat - nicht dazu
missbrauchen, uns als Herrscher der Welt aufzuführen. Ich finde
es erschreckend, wie man in der Massentierhaltung mit Tieren umgeht,
die Meere überfischt, Arten ausrottet und Regenwälder
vernichtet. Das ist eine Folge der menschlichen Hybris.
chrismon:
Herr Sturm, Sie implantieren Menschen mit Parkinson und schweren
Depressionen Hirnschrittmacher und verändern damit auch ihr
Wesen. Spielen Sie Gott?
Sturm: Nein,
ich sehe mich als Werkzeug Gottes. Ich habe bestimmte Fähigkeiten
mitbekommen und die Aufgabe, sie einzusetzen, um möglichst
vielen Kranken zu helfen. Wir implantieren Hirnschrittmacher bei
Patienten, die psychotherapeutisch und medikamentös nicht mehr
behandelbar sind. Wir wollen normale Oszillationen in gestörten
Regelkreisen wiederherstellen und die Patienten, wenn möglich,
heilen. Diese Menschen leiden in kaum vorstellbarer Weise. Da haben
wir die Pflicht zu helfen.
Mosbrugger:
Wo
sind für Sie die Grenzen - und zwar vor dem Hintergrund, dass
wir Grenzen permanent verschieben? Während der Renaissance hat
man angefangen, Leichen aufzuschneiden und zu untersuchen. Bis dahin
war das ein Tabu. Derzeit lehnen wir Embryonenforschung ab, aber
betreiben wir sie vielleicht in 200 Jahren? Natürlich setze ich
ethische, religiös, philosophisch begründete Grenzen. Aber
die bewegen sich im Lauf der Zeit.
Sturm:
Für
mich gibt es eine eindeutige Grenze. Wir dürfen ausschließlich
schwere Krankheiten behandeln. Ich bin ein strikter Gegner von
"Neuro-Enhancement", also von Bestrebungen, mit
medizinischen Mitteln die Hirnleistung zu verbessern. In den USA
nehmen viele Studenten bei der Prüfungsvorbereitung Amphetamine,
Aufputschmittel, die bei hyperaktiven, ADHS-kranken Kindern wirksam
sind. Theoretisch könnte man auch Elektroden in
gedächtnisrelevante Strukturen implantieren, um deren
synaptische Funktionen zu verbessern. Dies wäre für mich
noch krimineller als Doping im Sport
chrismon:
Wenn man eine gewalttätige Neigung operativ aus dem Gehirn
entfernen könnte, sollte man das tun?
Mosbrugger: Wenn
mir ein Arzt bei Magenkrebs den Magen entfernt, bin ich immer noch
Volker Mosbrugger. Beim Gehirn fragen wir, ob da ein anderer Mensch
entsteht. Entscheidend ist die Begründung. Nehme ich die Antwort
einfach aus der Bibel oder aus meinem Kontext, die Mama hat's gesagt?
Nein, ich brauche ein logisches Fundament. Das müssen die Ärzte
entscheiden.
Sturm:
Nicht
allein! Probleme mit derartiger gesellschaftlicher und juristischer
Relevanz müssen öffentlich diskutiert werden. Bei mir
fragen gelegentlich Rechtsanwälte und Sexualstraftäter in
Sicherungsverwahrung, ob man operativ etwas tun könne. Natürlich
könnte ich die Erotisierungszentren beeinflussen. Bisher habe
ich das immer abgelehnt. Nicht weil ich nicht helfen wollte,
Triebtäter sind ja kranke Menschen. Aber mein eherner Grundsatz
lautet: Der Patient muss frei entscheiden können, ob er den
Eingriff will oder nicht. Das ist bei Strafgefangenen nicht möglich.
Die wollen raus und nehmen dafür jedes Risiko in Kauf.
Mosbrugger:
Ich wünschte, dass unser Urteil stärker durch Vernunft
begründet ist, nicht durch Zuhilfenahme von Tradition und
Religion. Man muss Entscheidungen vernünftig durchdenken und
dann Wertsetzungen einbringen. Hier könnte ich sagen: Ich
erlaube mir, überall da einzugreifen, wo es um Heilung einer
Krankheit geht, die das Lebensgefühl signifikant verschlechtert.
Eine Schönheitsoperation würde nicht dazugehören.
Sturm:
Kann sie aber, wenn Menschen unterm Aussehen leiden.
Mosbrugger:
Ich muss dann definieren, was ich unter Krankheit verstehe und wo es
um gesellschaftlichen Erfolg geht.
chrismon:
Meditieren Sie vor schweren Entscheidungen?
Sturm: Ich
bete. Und die Bibel kann uns weiterhelfen. Die Zehn Gebote regeln
auch heute ein funktionierendes Zusammenleben. Und Jesus fordert in
der Bergpredigt nicht nur Empathie, sondern Nächsten-, sogar
Feindesliebe. Man sollte sich daran orientieren. Dann würden wir
anders mit unseren Artgenossen und mit der Natur umgehen. Ich sehe
die Gefahr, dass wir die Welt zerstören.
Mosbrugger:
Ich
bin Optimist. Ich glaube nicht, dass wir untergehen. Wir stehen an
einem Scheideweg. Wir müssen entscheiden, was für eine Welt
wir haben wollen. Wir können in verschiedenen Welten leben, das
hat die Evolution gezeigt. In den letzten Monaten ist das
Artensterben heftig debattiert worden. Wir verlieren pro Tag hundert
Arten. Was wir machen, sieht man als Footprint des Menschen noch in
fünf Millionen Jahren. Das Problem ist, dass Menschen nur in
ein, zwei Generationen denken. Kinder, ihr müsst schon ein
bisschen länger denken!
chrismon:
Welche Geschichte erzählen Sie mal Ihren Enkeln?
Mosbrugger:
Bei
einer Führung durchs Museum würde ich den Vogelsaal mit
5000 Vogelarten zeigen. Warum gibt es so viele Vögel, die alle
das Gleiche machen, Eier legen, sich reproduzieren? Weil das Leben
eine hochkomplexe Aufgabe ist. Bauen Sie ein Auto, das schnell fahren
kann, auf das man viel laden kann, das wenig Sprit verbraucht und
schön aussieht. Da gibt es viele Lösungen. Die Physiker
nennen das ein frustriertes Problem. Das Leben ist ein frustriertes
Problem, dafür gibt es viele Lösungen. Daher diese
Vielfalt. Alles Möglichkeiten, wie Sie leben können!
Sturm:
Ich
würde meinen Enkeln die klassischen Märchen erzählen.
Das tapfere Schneiderlein vielleicht. Da steckt viel Weisheit, viel
Lebenserfahrung drin.
Mosbrugger:
Der
schlägt Fliegen tot.
Sturm:
Und
steht mit viel Witz Abenteuer durch, bis er König wird. Das
macht Mut.
Moderation: Hedwig Gafga und Burkhard Weitz