ZEIT ONLINE   38/2008 S. 8   [http://www.zeit.de/2008/38/Schmidt-Vorabdruck]
 

Helmut Schmidt

Von Helmut Schmidt

Was ich noch glaube

In dem persönlichsten Kapitel seines jüngsten Buchs "Außer Dienst" beschreibt der Altbundeskanzler seine wachsenden Zweifel an Gott. Ein Vorabdruck

Bis zum Ende des Krieges habe ich nicht wirklich gewusst, was an die Stelle des »Dritten Reiches« treten sollte. Ich wusste nur, dass ich dagegen war, nicht aber, wofür. Wie sollte es weitergehen? Ich habe meine Hoffnung für die Zeit danach auf die christlichen Kirchen gesetzt. Ich verstand mich als Christ, aber das hatte sich aufgrund äußerer Einflüsse gewissermaßen von selbst ergeben. Ich wusste nichts vom Judentum, nichts vom Islam, nichts von Konfuzius, nichts von Kant und der Aufklärung. Was ich vom Kommunismus Böses gehört hatte, habe ich zwar nicht geglaubt, aber eine Diktatur des Proletariats kam mir doch unheimlich vor. Als ich 1945 nach acht Wehrpflichtjahren nach Hause kam, wurde ich 27 Jahre alt. Ich war also ein erwachsener Mann, aber ich wusste sehr wenig; ich wusste nur: Dies alles darf nie wieder geschehen. Deshalb habe ich mich alsbald für Demokratie und soziale Gerechtigkeit engagiert. Wie man aber dorthin gelangt, das wusste ich nicht.

Meine christliche Unterweisung hat nicht im Elternhaus, sondern im Konfirmationsunterricht 1934 begonnen. Dort hatte ich die wichtigsten Glaubensinhalte gelernt, aber das meiste blieb bloßer Lernstoff. Vater, Sohn und Heiliger Geist, die jungfräuliche Geburt, das leere Grab und Christi Himmelfahrt, die verschiedenen Wunder, aber auch die Geschichten aus dem Alten Testament, von Kain und Abel, von Noah und seiner Arche, von Moses am Berge Sinai – all das waren für den Fünfzehnjährigen lediglich seltsame Geschichten. Ich glaubte zwar an Gott als wirklich existent, aber seine Dreieinigkeit vermochte ich mir nicht vorzustellen. Ich konnte auch nicht glauben, dass Gott seinen Sohn auf die Erde geschickt hat, um ihn dort kreuzigen zu lassen und ihn am Ende in den Himmel aufzunehmen. Wenn Jesus der Sohn Gottes war, wieso dann nicht auch alle übrigen Menschen? Ich habe mit den anderen gemeinsam gebetet, aber die Gebete blieben mir ziemlich fremd. Nur das wunderbare Vaterunser habe ich mit innerer Überzeugung gesprochen. Allerdings verstand ich wohl: Nicht nur unser Pastor, Walter Uhsadel, meint alles sehr ernst; auch viele andere meinen es ernst, wenn sie von der Bibel als einem heiligen Buch reden.

Sieben Jahre später – unsere Fahrzeuge blieben im russischen Schlamm stecken, und ich hatte bereits die unausweichliche Niederlage und die unausweichlich bevorstehende Katastrophe Deutschlands vor Augen – eröffnete mir ein Soldat meiner Batterie, ein angehender Pastor oder Priester, mit zwei christlichen Weisheiten zum ersten Mal einen wirklichen Zugang zum Christentum. Ich hatte ihm geklagt: Wir kämpfen hier, und viele müssen sterben, aber in Wahrheit hoffen wir gar nicht auf unseren Sieg, sondern vielmehr auf ein Ende des Krieges. Wir befolgen pflichtbewusst unsere Befehle, aber in Wahrheit zweifeln wir doch an der Vernunft des Führers – wo ist der Ausweg? Jener junge Theologe hat mir mit dem Römerbrief des Apostels Paulus geantwortet: »Seid untertan der Obrigkeit… denn die Obrigkeit ist von Gott.« Und im Laufe unseres mir unvergessenen Gesprächs fiel ein anderer Satz: Vergessen Sie nicht, es geschieht nichts ohne Gottes Willen. Beide Sätze haben mich an jenem Abend beruhigt.

Freilich hat die Hilfe nicht lange angehalten. Denn konnte der Krieg wirklich Gottes Wille sein? Und wieso hatte Gott den in meinen Augen größenwahnsinnigen »Führer« als Obrigkeit geduldet? Ich war mir und bin mir auch heute darüber im Klaren, dass viele Menschen in ihrem christlichen Glauben Halt finden. Ich habe Gläubige zeit meines Lebens immer respektiert, gleich, welcher Religion sie anhängen. Aber ebenso habe ich religiöse Toleranz immer für unerlässlich gehalten. Deshalb habe ich die christliche Mission stets als Verstoß gegen die Menschlichkeit empfunden. Wenn ein Mensch in seiner Religion Halt und Geborgenheit gefunden hat, dann hat keiner das Recht, diesen Menschen von seiner Religion abzubringen.

Als Loki und ich mitten im Kriege heiraten wollten, haben wir eine kirchliche Trauung beschlossen. Wir waren beide 23 Jahre alt, die Zukunft sah düster aus. Vielleicht würden wir das Ende des Krieges gar nicht erleben, deshalb wollten wir uns aneinander binden. Aus ähnlichem Empfinden sind damals manche Kriegsehen geschlossen worden. Aber warum eine kirchliche Trauung?

Gleichwohl nenne ich mich immer noch einen Christen

Von Hause aus waren wir beide ziemlich immun gegen die Nazis. Wir haben zwar nichts von ihren schweren Verbrechen, nichts von dem fabrikmäßigen Massenmord in Auschwitz und anderwärts gewusst. Aber immerhin hatte ich begriffen: Die Nazis sind verrückt, Deutschland wird jämmerlich enden. Ich habe mir das Ende noch viel schlimmer vorgestellt, als es dann tatsächlich gekommen ist. Zur Zeit von Hitlers Angriff auf die Sowjetunion war ich darüber mit einem Nennonkel in einen heftigen Streit geraten. Er war ein Freund meines Vaters, 25 oder 30 Jahre älter als ich, Hauptmann der Reserve, also in gewisser Weise eine Autoritätsperson für den jungen Kriegsleutnant. Ich habe ihn angeschrien: »Das alles wird mit dem Untergang Deutschlands enden. Der neue deutsche Baustil wird Baracke heißen. Aber wir können noch froh sein, wenn wir dann in Baracken und nicht in Erdlöchern leben!« Denn so habe ich mir in der Tat das Ende vorgestellt. Außerdem rechnete ich mit dem Zusammenbruch aller Moral.

In solcher Lage kann man seine Hoffnung nur auf die Kirche setzen, dachte ich, und deshalb muss man die Kirche stützen. Meine Frau teilte diese Vorstellung. So kam es zu dem Entschluss, uns kirchlich trauen zu lassen. Das war nicht als Provokation gemeint, wie einige unserer Bekannten damals meinten; wir waren auch keine Widerstandskämpfer. Unsere kirchliche Trauung war keine Hinwendung zur christlichen Religion, sie war vielmehr Ausdruck unserer Hoffnung auf die moralische Kraft der Kirche, die nach dem erwarteten bösen Ende in Deutschland wieder eine anständige Gesellschaft herstellen würde.

Heute weiß ich längst, dass diese Hoffnung allzu idealistisch und auch naiv gewesen ist. Die Kirchen konnten gar nicht leisten, was wir von ihnen erwarteten. Immerhin hatte Lokis Pastor, Richard Remé, unsere Hoffnung geteilt. Loki kam aus einer atheistischen Familie; um kirchlich getraut zu werden, bedurfte sie zunächst der Taufe. Ihr Pastor glaubte an die Schöpfungsgeschichte im Alten Testament – Loki hingegen war von Charles Darwin überzeugt. Ein halbes Jahr lang haben sie diskutiert. Pastor Remé wusste, dass er Loki nicht überzeugt hatte, aber er taufte sie gleichwohl, weil er ihr Motiv für die kirchliche Trauung verstand und anerkannte.

Trotz all meiner Skepsis gegenüber einer ganzen Reihe christlicher Dogmen empfand ich mich auch später noch als Christ. Das Schisma zwischen Katholiken und Protestanten und ihr jahrhundertelanger theologischer Streit erschienen mir dabei vollkommen belanglos. Für mich war es wichtig, den Kontakt und das Gespräch mit erfahrenen Kirchenleuten zu pflegen, um von ihnen zu lernen; in öffentlichen Reden freilich vermied ich jede Anlehnung an die christliche Lehre. Sicherlich habe ich mehrfach gegen die letztere Regel verstoßen.

Solange ich im Amt war, habe ich nur ungern in Kirchen Vorträge gehalten, aber als Privatperson habe ich mich vielen Einladungen zu kirchlichen Gremien nicht entziehen wollen. Besonders später, zwischen dem Ende meiner Kanzlerschaft und dem Ende der DDR, habe ich fast jährlich in einer ostdeutschen Kirche oder einem kirchlichen Gremium im Osten Vorträge gehalten. Meist konnte meine Bitte erfüllt werden, mir ein Pult hinzustellen, denn ich wollte nicht wie ein Prediger des Christentums von der Kanzel herab sprechen.

Meine Kontakte mit herausragenden Kirchenleuten habe ich auch nach dem Ausscheiden aus allen Ämtern aufrechterhalten. Mehrmals hatte ich das Glück, den emeritierten Wiener Kardinal Franz König zu treffen. König, der im Jahr 2004 mit 98 Jahren starb, war ein wunderbar kluger Mann, der im Laufe seines Lebens wohl immer noch gläubiger geworden ist. Als ich ihn das letzte Mal in Wien besuchte, lebte er in einem der Kirche oder einem Orden gehörenden Haus und wurde von einer Nonne betreut, die seinen Haushalt führte. Beim Abschied gab er mir die Hand und sagte: »Herr Schmidt, vergessen Sie nicht die Kraft des persönlichen Gebets!« Im gleichen Augenblick begriff ich, dass ich ihn nicht wiedersehen würde; es war das Vermächtnis eines Menschen, der wusste, er würde sterben. Ich werde das nie vergessen. Königs Mahnung zum Gebet habe ich allerdings nicht befolgt. Einige Jahre später war ich abermals in Wien und wollte sein Grab besuchen. Ich erfuhr, dass der Kardinal in einer Gruft in der Krypta des Stephansdoms beigesetzt ist. Ich stieg hinunter, und da lagen – in Nischen übereinandergestapelt – die Särge der Wiener Erzbischöfe, darunter auch Franz Königs Sarg. Mir kamen die Tränen in der Erinnerung an diesen weisen Mann – und um die Tränen zu verbergen, habe ich zu dem mich begleitenden Monsignore irgendeine burschikose Bemerkung gemacht.

Während des Vierteljahrhunderts seit Ende meiner Kanzlerschaft habe ich nicht nur das Gespräch mit Vertretern der christlichen Kirchen fortgesetzt, sondern auch mehrere gläubige Muslime, Juden und Buddhisten näher kennengelernt. Auch im Gespräch mit Freunden in China, Korea und Japan habe ich manches über andere Religionen und über mir bis dahin fremde Philosophien gelernt. Diese Bereicherung hat meine Distanz zum Christentum vergrößert, sie hat zugleich meine religiöse Toleranz entscheidend gestärkt. Gleichwohl nenne ich mich immer noch einen Christen und bleibe in der Kirche, weil sie Gegengewichte setzt gegen moralischen Verfall in unserer Gesellschaft und weil sie Halt bietet.

Kürzlich hat mich ein Freund gefragt, was denn für mich die Formel »So wahr mir Gott helfe« als Zusatz zum Amtseid, das heißt zum Schwur des Bundeskanzlers, bedeutet habe. Ich muss gestehen, ich wusste darauf keine bündig-kurze Antwort zu geben. Es wäre unwahr gewesen, wenn ich etwa geantwortet hätte, die Formel habe mein Vertrauen ausdrücken sollen, dass Gott mir helfen würde; denn ein solches gläubiges Vertrauen hatte ich in Wahrheit nicht. Selbst wenn das Wort Gott nur eine Metapher, eine Redensart wäre, die für den Kanon unserer ethischen Überzeugungen steht, läge die Verantwortung für die Einhaltung des beeideten Versprechens doch allein in meinem eigenen Gewissen. Die Regierenden beschwören die Einhaltung des Grundgesetzes; aber jedes Jahr gibt es viele Fälle, in denen es streitig ist, ob ein Handeln der Regierung verfassungskonform oder verfassungswidrig ist. Die Richter selbst sind oft genug nicht einig darüber, und weder der Amtseid der Regierenden noch der Amtseid der Richter kann und soll etwas daran ändern. So reduziert sich der Amtseid auf eine Warnung an das eigene Gewissen vor leichtfertig oder gar vorsätzlich pflichtwidrigem Handeln. Auch der religiöse Zusatz ändert daran nichts.

Ich wusste immer, die Mehrheit unserer Bürger glaubt an Gott

Wohl aber bezeugt der Zusatz öffentlich: Ich, der Schwörende, glaube an Gott. Aber was alles ist im Laufe von Jahrhunderten im Namen des christlichen Gottes an Kriegen und Verbrechen verübt worden! 1914 standen auf den Koppelschlössern der deutschen Soldaten die Worte »Gott mit uns«; damals war natürlich der christliche Gott gemeint, und der Pastor hatte die Regimentsfahne geweiht. Heute ist es durchaus möglich, dass der Schwörende den Gott der Thora oder den Gott des Korans meint. Allerdings halte ich heute sowohl den Schwur an sich als auch die zusätzliche Anrufung Gottes für eine zweifelhafte Einrichtung.

Gleichwohl ist es mir immer selbstverständlich gewesen, den Eid mitsamt der religiösen Zusatzformel zu leisten. Ich wusste immer, die Mehrheit unserer Bürger glaubt, dass es Gott gibt, und sie erwartet meine Anrufung Gottes. Es war für mich gänzlich unproblematisch, dieser Erwartung zu entsprechen. Allerdings hätte ich auch ohne die religiöse Zusatzformel mein Gewissen immer genauso angestrengt, mein Versprechen einzuhalten, das ich in Gestalt des Amtseides gegeben habe. Der Amtseid ist die einzige Erwähnung Gottes in den Artikeln des Grundgesetzes – aber das Grundgesetz sagt ausdrücklich: »Der Eid kann auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden.« Ob Amtseid oder Eid des Zeugen vor Gericht, jedenfalls muss jeder im eigenen Gewissen entscheiden, ob er mit oder ohne Gott schwören will. Ich hatte keinerlei Gewissenszweifel, den Amtseid unter Anrufung Gottes zu schwören; jedoch bezweifle ich, dass Martin Luther oder der Vatikan mich als Christen anerkennen würde.

Helmut Schmidt: Außer Dienst – Eine Bilanz
Siedler Verlag, 2008, 352 Seiten, Euro 22,95

DIE ZEIT, 11.09.2008 Nr. 38