Sibylle Havemann hat ihre Stasi-Akte nicht gelesen. »Ich wollte meine eigenen Erinnerungen nicht vergiften«, sagt sie und schaut und wird wieder das Mädchen, das sie vor mehr als 40 Jahren war. »Aber ich bin auch nicht ahnungslos aufgewachsen.«
Es ist still in der Wohnung von Sibylle Havemann. Sie wohnt im letzten Flecken von Kreuzberg, vor dem Haus fließt die Spree, die Häuser links und rechts wurden im Krieg niedergebombt, gegenüber am Ufer schaut sie täglich auf die Reste der Mauer. Früher ist sie jeden Tag diese Strecke zur Schule gefahren, auf der DDR-Seite, dort, wo heute eine riesige silberne Sportarena gebaut wird.
Eigentlich müsste es hier vom Lärm der Geschichte explodieren. Aber es sind nur Familien wie die der Havemanns, die die Geschichte wieder zum Schwingen bringen. Ein wenig wie historische Stimmgabeln.
Für Florian war der Vater ein Loser, für Sibylle war er wie Buddha
»Mein Bruder Florian muss einen anderen Menschen zum Vater gehabt haben«, hat Sibylle Havemann vor einer Woche im Spiegel geschrieben, was sicher erst einmal richtig ist, denn jedes Kind erlebt seine Eltern anders. Florian Havemann hat seine Sicht auf über tausend Seiten ausgebreitet, in dem Buch Havemann , einer subjektiven Familienchronik, einem DDR-Panorama, das der Suhrkamp Verlag nach ein paar Wochen zurückziehen musste, weil sich einige Personen gegen die Art und Weise gewehrt hatten, wie sie in dem Buch dargestellt waren.
Florian fühlte sich ungeliebt, der berühmte Vater Robert sei ein »Loser« gewesen, schreibt er; Sibylle fühlte sich geborgen, der Vater sei wie ein Buddha gewesen, sagt sie, magisch, ruhend, weise. Die Frage ist nun nicht so sehr, wer recht hat und wer nicht. Die Frage ist, wie es diese deutsche Familie überhaupt durch all die Lügen, durch all die Verbiegungen und Verbrechen dieses deutschen Jahrhunderts geschafft hat.
»Wir sind eine beschädigte Familie«, sagt Sibylle Havemann und meint damit erst einmal die Eltern: Robert Havemann, der Kommunist und Widerstandskämpfer, der 1943 zum Tode verurteilt und 1945 von der Roten Armee befreit wurde. Und Karin von Trotha, die Emanzipierte, die Raucherin, die Witwe. Ihr Vater war Direktor der Charité, ihre Mutter war Malerin. Havemanns Vater Hans wurde 1933 Mitglied der NSDAP und 1946 Mitglied der SED. Nach dem Krieg fanden sie sich. Ihre Kinder Frank, Florian, Sibylle kamen im Abstand von drei Jahren, 1949, 1952, 1955. Es sollte ein neues Deutschland sein.
Die Havemanns waren ja DDR-Adel, mit einer eigenen Hausangestellten, die kochte. Der Vater war zwar zum Mittagessen da, aber er schlief nicht zu Hause. Und die Mutter war kühl und zurückhaltend und sehr preußisch. »Sie war so einverstanden mit dem Staat und der SED«, sagt Sibylle Havemann, »dass sie in keinerlei Widerspruch geriet, wenn die Genossen sich mit ihr auch über private Dinge unterhalten wollten.«
»IM Schneider« hieß sie, sie wollte ja eigentlich mal Mode machen; und berichtete über Florian und Sibylle auch, als die schon längst im Westen waren, lange nach der Scheidung 1967, die von der Partei betrieben wurde und bei der die Kinder ihr zugesprochen wurden. Ihre Mutter habe in den Berichten über ihre Kinder, sagt Sibylle Havemann heute, eher verharmlost; als habe sie gewollt, dass sie und ihr Bruder wieder in die DDR einreisen durften. »Als wir Kinder das alles nach der Wende erfahren haben«, sagt sie, »sind wir zu ihr gegangen und haben gesagt: Wir wollen nur, dass du weißt, dass wir es wissen. Wir wollen keine Erklärung.«
Sibylle Havemann erzählt sehr ruhig von alldem. Sie hat lange, leicht graue Haare, die sie an diesem Samstagnachmittag offen trägt, sie hat eine helle Stimme, die angenehm den Raum erfüllt. Sie ist 52, und ein wenig wirkt sie wie die ewige Tochter. Ihr älterer Bruder Florian jedenfalls, deshalb hat er ja sein Buch geschrieben, wollte auf keinen Fall der ewige Sohn sein.
Über ihren Bruder allerdings will Sibylle Havemann nicht sprechen und nicht über sein Buch. »Unser Wohlwollen liegt bei Florian«, sagt sie nur und meint damit auch den ältesten Bruder Frank, der 1968 wie Florian ins Gefängnis musste, weil sie beide gegen den Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei protestiert hatten. Sie waren jung damals, vielleicht zu jung für ein Leben, das aus der Balance gerät; und sie zogen gegenteilige Konsequenzen. Frank ging in die SED und wurde Wissenschaftler; Florian ging in den Westen und wurde Künstler. Sibylle folgte 1977 Wolf Biermann nach Köln. »Ich wusste damals, dass ich meinen Vater nicht mehr wiedersehen würde«, sagt sie. Sie hatte zwar gelernt, mit dieser Zerrissenheit zu leben. »Es ging gar nicht anders, als dass wir politisiert wurden«, sagt sie über diese Kindheit, die spannender war als jeder Indianerroman. Aber eben auch ein Stück härter.
Robert Havemann arbeitete bis 1963 mit dem KGB und der Stasi zusammen, bevor er fiel, in Ungnade fiel. Seine Tochter will ihm aus dieser Zusammenarbeit keinen Vorwurf machen, es entsprach immerhin seinen Überzeugungen. Wichtig findet sie, dass er sich trotz seiner Überzeugungen verändert hat und zum Dissidenten wurde. Vorwürfe sind an diesem Kreuzberger Nachmittag rar. Es geht Sibylle Havemann mehr darum, dass alles an seinem richtigen Platz steht, dass die Erzählung, von Florian Havemann so einseitig begonnen, ihre Ordnung zurückbekommt. Es geht ihr vielleicht in diesem Streit gar nicht so sehr um die Vergangenheit; es geht mehr darum, als Familie weiterleben zu können.
Die Diktatur verletzt Menschen, aber die Demokratie heilt sie nicht
Vier Kinder hat Sibylle Havemann, zwischen 24 und 33, auch über sie will sie nicht sprechen. Das sind eben die verletzlichen, verletzten Verbindungen in Familien, die so anfällig sind, in der Diktatur speziell und dann aber auch, als Erbe, in der Demokratie. Bücher zu verbieten, wie das gerade im Fall von Maxim Biller geschehen ist, das betont Sibylle Havemann, das sei das allerletzte Mittel. Sie verhandelt nun mit dem Suhrkamp Verlag über die Stellen, die sie betreffen. Das Buch soll anders wiedererscheinen. Sie will, dass ihre Wahrheiten ihren Platz bekommen.
Es ist ein wenig, könnte man sagen, wie in der Alexander-Technik, die Sibylle Havemann unterrichtet, eine Art Entspannungstechnik, bei der es vor allem darum geht, sich selbst in seinen Bewegungen und Haltungen und Haltungsproblemen zu beobachten und dem Körper wieder seine eigene Ordnung zurückzugeben. »Das hat oft eine sehr befreiende Wirkung«, sagt sie und sinkt ein wenig in ihrem Lehnstuhl zurück.
Richtig frei sind sie wohl beide nicht, wie auch. Und dass sie sich etwas freier fühlen kann als ihr Bruder Florian, das, so scheint es, macht Sibylle Havemann nicht wirklich froh.
DIE ZEIT, 17.01.2008 Nr. 04