ZEIT ONLINE   51/2007 S. 60   [http://www.zeit.de/2007/51/L-Havemann]
 

Biografie

Das uralt kluge Kind

Florian Havemann ermordet seinen toten Vater, auf dass er lebe

Von Christoph Dieckmann

Der Verlag hatte eine Unwetterwarnung ausgegeben. »Heftig wie ein Wintergewitter kommt Havemann über Berlin, über Deutschland«, so donnerte der Suhrkamp-Katalog. Jetzt krachte das Werk hernieder, elfhundert Seiten stark – nein: dick, »ein egoistisches, ein vollkommen egozentrisches Buch«, wie der Autor verspricht. Bereits dem Startkapitel genügen im Wesentlichen die Wörter »ich« und »Havemann«. »Alle kennen Havemann, keiner kennt Havemann. Ich schreibe auf, was ich weiß. Ich schreibe nur auf, was ich weiß. Ich schreibe aber auch meine Zweifel an dem auf, was ich weiß. Und ich weiß…« Und so weiter.

O Schicksal, wie bist du so hart! Nach hundert Seiten erwägt der Rezensent Republikflucht, entschließt sich aber durchzuhalten wie einst Robert Havemann, der Held von Grünheide, der Oberdissident der DDR. Havemann starb 1982. Sohn Florian, geboren 1952, vermutet: «Meine Zeit, sie kommt erst noch. Die Zeit, in der ich als Künstler, als Autor irgendeine Wirkung haben werde, sie bricht vielleicht grad erst an.«

Havemann ist ein unmögliches Buch. Es strotzt von Narzissmus, Hybris, Selbstgerechtigkeit. Stilistisch produziert dieser Autor Aquaplaning-Prosa. Was ihm durchs Hirn strömt, flutet ins Buch und schwemmt den Leser mit. Falls es je einen Lektor gab, so ist er beizeiten ertrunken. Die Gattung zu bestimmen, tut Havemann junior sich schwer. Autobiografie? Väter-und-Söhne-Geschichte? Letztlich nennt er’s »Familienroman«, auch wegen möglicher Klagen. Auf Faktenrecherche hat er weitgehend verzichtet und seine Wahrheitserfahrungen aufgeschrieben. Die enthalten auch Legenden und Hörensagen. Und doch und gerade wegen seiner Mängel ist Havemann ein außerordentliches Buch. Je länger man in der enthemmten Suada badet, desto stärker spürt man ihren Sog. Anhand der exponierten Familie H. lässt sich viel vom deutschen 20. Jahrhundert erzählen. Hans Havemann, Florians Großvater, war Gymnasiallehrer in Bielefeld, später Chefredakteur einer hannöverschen Zeitung. Er schrieb einige Dramen und veröffentlichte 1937 Das Bild des Menschen, eine pathetisch orgelnde Schrift über Mensch und All im Lichte einer Philosophie des Raumes. Hans H. zählte zu den »Märzgefallenen« von 1933, die sich nach Hitlers Machtantritt eilfertig den Nazis zugesellten. Genauso flink trat er nach dem Kriege der SED bei. Der Enkel ist bald fertig mit dem Opportunisten. Wie anders war Robert H. Der promovierte Chemiker wurde Kommunist. Er gründete die Widerstandsgruppe Europäische Union, die Juden versteckte und Zwangsarbeitern half. Die kleine Gruppierung flog auf. Im Dezember 1943 wurden Havemann und Genossen zum Tode verurteilt. Nur Havemann erlebte 1945 die Befreiung aus dem Zuchthaus Brandenburg, weil seine Hinrichtung wegen seiner kriegswichtigen Giftgasforschungen aufgeschoben worden war. In den Anfangsjahren der DDR diente der Professor Havemann als treuer Exekutor der SED-Macht und als Stasi-Informant. Später rückte er vom Stalinismus ab. Er propagierte ideologiefreie Wissenschaft und individuelle Menschenrechte. Die Partei schloss ihn aus und entzog ihm das Lehramt an der Berliner Humboldt-Universität. Fortan privatisierte er und publizierte im Westen, schikaniert vom Regime. Allmählich entstand der Ahnvater der DDR-Opposition, wie er in heutigen Geschichtsbüchern wohnt. Man lese etwa Robert Havemann oder Wie die DDR sich erledigte von Joachim Widmann und Katja Havemann, der Witwe: eine Chronik des Grünheider Hausarrests mit hagiografischen Zügen. Die Rollen sind gebührlich verteilt: drinnen Held H., umringt von seinen Jüngern Wolf Biermann, Jürgen Fuchs, Rainer Eppelmann et cetera, draußen vor der Tür die Welt der SED mit ihren Bütteln, die Havemann entnerven, brechen, zersetzen sollten. Havemann aber blieb getreu bis in den Tod – sich und seinen Idealen vom freiheitlichen Sozialismus.

So war’s ja, genauso dumm und repressiv. Bloß weniger heilig. Florian Havemann pinkelt nicht nur ans väterliche Denkmal, sondern erlegt den Vater mit der Mistforke. Er zeichnet ihn als verbummelten Bock und Kognakschwenker, der »nach seiner Entlassung aus der Humboldt-Universität in keinster Weise mehr wissenschaftlich gearbeitet hat«. Im Kopf des Lesers wird ein Charaktertausch provoziert. Wo eben noch der Denk-Märtyrer Robert H. Dialektik ohne Dogma und ähnliche Freiheitsprosa erschuf, hockt nun ein entspannter Süffler und dilettiert vor sich hin.

Wer Havemann liest, muss zweierlei für höchstes Glück erachten: kleinbürgerliche Herkunft und liebende Eltern. Beides blieb Florian versagt. Mutter Karin sei preußisch kalt und verlogen gewesen, überdies regimetreu, und habe nach der Scheidung selbst Familienangelegenheiten der Stasi zugetragen. Der Vater weiberte und setzte alle Hoffnungen auf Frank, Florians älteren Bruder. Frank musste ins Krankenhaus, der Vater besuchte ihn sofort. Florian lag dort wochenlang, der Vater kam nie.

Als Weihnachten kam, spielten sie das Selbstmordspiel

Das sind klassische Traumata. Überhöht und konterkariert wurden sie durch den enormen Druck der ideologischen Moral, der weltverbesserlichen Sendungsgewissheit, mit der man wohl in jenen Kreisen leben musste. Selbstverständlich war die DDR das bessere Deutschland, nicht die braunfaule Bundesrepublik.

Sozial gehörten Havemanns zum roten Adel der DDR, zur Stalinallee-Aristokratie. Florians Onkel war Hermann Henselmann. Ulbrichts Stararchitekt wohnte ein Stockwerk tiefer am Strausberger Platz. Weihnachten feierte man gemeinsam. Onkel Hermann dachte sich Spiele aus, »jedes Weihnachtsfest was anderes, und in einem Jahr, da kommt er auf die merkwürdige Idee, wir sollten Selbstmord spielen«. Acht Henselmann-Kinder plus vier von Havemanns bemühen sich mehr oder minder überzeugend um ihr Ableben, bis Großvater Havemann auftritt. Der Greis schreibt einen Abschiedsbrief. Er nimmt Gift. Er würgt, er windet sich in Krämpfen. »Er bäumt sich noch einmal qualvoll auf. Bricht dann endgültig zusammen. Letzte Zuckungen, dann Stille…« Opa erhebt sich, heiter weiterlebend. »Stimmung, gar weihnachtliche Stimmung wollte danach nicht wieder aufkommen.«

Solche Schmankerln gibt es viele in diesem Buch, das natürlich von Namen lebt und von der Naschsucht des Publikums. Florian Havemann hat ein Talent zum anekdotischen Porträt. Schrieb je einer so warm über seine erste Liebe, die spätere Schrillschnalle Nina Hagen? Gibt es ein näheres Bildnis von Thomas Brasch, der F. H. in seiner Novelle Vor den Vätern sterben die Söhne skizzierte? Der gute Mensch Erich Fried tritt auf, noch plastischer der gleichfalls liebenswerte Rudi Dutschke, der leider Gottes nur Unsinn quatschte, weil er ausschließlich in ideologischen Stanzen sprach. Fried erklärte, warum: Nach dem Attentat habe der Rudi völlig neu sprechen gelernt, traurigerweise nur Linksjargon mangels neutraler Lehrer. Auch Heiner Müller wird schön umrissen: »Müller, das bedeutet sentimentaler Stalinismus als Waffe gegen die poststalinistische Verweichlichung.« Zu Müller wie zu Wolf Biermann findet Havemann eindrückliche Sätze über die stalinistische Prägung vieler Opfer des Stalinismus.

Hat Biermann sich vor Angst im Schrank versteckt?

Nun aber naht Biermann, den Havemann »Halbbruder« nennt: der erste Mensch, der ihn in den Arm genommen habe. Biermann wählte sich Robert Havemann zum Ersatzvater, verband sich mit Tochter Sibylle und schrieb, nachdem Florian 1971 gen Westen getürmt war, sein Lied über Flori Have, das »uralt kluge Kind«. Enfant perdu betrauerte den Flüchtling und denunzierte ihn als Deserteur der sozialistischen Idee. Freilich hatte Flori 1968 gegen den Einmarsch in die ČSSR protestiert und dafür, als Sechzehnjähriger, im Gefängnis gesessen. Biermann hingegen, so müssen wir lesen, habe sich schisshasig den Schnäuzer rasiert und aus Angst in einem Schrank versteckt. Die Ausbürgerung 1976 schließlich sei quasi mit seinem Einverständnis geschehen. Robert Havemann höchstselbst habe den Geschassten Verräter genannt. Und von der angeblichen Liaison mit First Lady Honecker durfte ja dieser Tage ganz Deutschland erfahren.

Uns bleibt, was gut war und klar war, so sang einst Wolf Biermann in seiner Che-Guevara-Anbetung. So soll es sein, so wird es sein, so muss es sein. Als lebenslängliches Idol ist der Zwangsdrastiker Biermann herzlich ungeeignet, doch es bleiben Chausseestraße 131 und aah – ja! und Warte nicht auf beßre Zeiten – grandiose Platten, die bezeugen, wie vorbildlich dieser Egomane im DDR-Kollektiv der Zähnezusammenbeißer den Wolfsrachen aufriss. Auch Robert Havemanns Entgoldung ist ein emanzipatorischer Akt. Der Sohn nennt den Vater einen Menschen »mit einem Plural an Identitäten« und grübelt, ob das Verlangen nach eindimensionalen Helden unbillig sei. »Die Welt ist komplizierter, als Klein Flori sich das mit seinem moralischen Rigorismus früher einmal gedacht hat.«

Florian Havemann, dies der unabweisbare Eindruck, ist ein verletzlicher Mensch und vermisst den Vater auf immer. Vielleicht hat er ihm à la Kafka mit diesem Buch einen sehr langen Brief geschrieben. Es wurde nichts Berühmtes aus dem Sohn, mag er sich zehnmal Künstler nennen und hundertmal Verfassungsrichter von Brandenburg. Er hat einen unveröffentlichten Roman geschrieben und zwei ungespielte Dramen namens SPEER und Rosa Luxemburg. Er ediert im Internet die Zeitschrift für unfertige Gedanken. Dass er sein Geld als Putzkraft verdiene, bekennt er selbstbewusst, auch, dass er vielleicht doch kein Künstler sei, kein Dramatiker, kein Maler, vielmehr ein Projektemacher, ein Dilettant, »ein ganz schüchterner, verschämter Mann«. Dann das ultimative Credo: »Ich bin ein Eierkopp.« Wir haben das nicht zu entscheiden und wünschen dieser expressionistischen Textflut viele schwimmfähige Leser.

Ein eigenes Wort: Der Rezensent war 1982 Vikar der Ostberliner Studentengemeinde und fand dort Unterlagen, jahrzehntealte Schreiben hilfesuchender Studenten an den damaligen Studentenpfarrer Gottfried Forck: Der Humboldt-Professor Havemann bedrohe sie mit Relegation, falls sie sich weiter zur Gemeinde hielten.

Auf den letzten Seiten seines letzten Buches Magdalena ringt der wahrheitssehnsüchtige Jürgen Fuchs um das Vorbild Robert Havemann, von dessen Stasi-Zeit als IM »Leitz« Fuchs erst posthum erfuhr. »Was wußtest du von ihm selbst? Nur Andeutungen. Er hatte Schuldgefühle. Mich hat er gestärkt. Mir hat er geholfen, kein IM zu werden. Aber ich habe ihn auch idealisiert. Er sollte groß, mächtig und ohne Fehler sein.«

Wer weiß schon, welchem letzten Ernst dieser dem Henker entronnene Mensch verpflichtet war? Trunk & Bett gehören zum Glück. Sich treu sein, wahrhaft bleiben oder werden, etlichen Menschen ein Beispiel der Tapferkeit geben, das ist viel, falls die Nachtseiten nicht verschwiegen werden. Auch für die oppositionelle DDR gilt Brechts Galilei: »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.«

Zum Thema

DIE ZEIT 05/2006: Ein scharfer Hund
Laut Stasi-Unterlagen hat der DDR-Dissident Robert Havemann als IM gearbeitet. Die Essenz seines Denkens vergiftet das nicht
[http://www.zeit.de/2006/05/Robert_Havemann]

DIE ZEIT 45/1996: Zur Unperson erklärt
Robert Havemanns Entlassung: Dokumentation eines Skandals
[http://www.zeit.de/1996/45/Zur_Unperson_erklaert]

DIE ZEIT, 13.12.2007 Nr. 51