"THADDEN:
 NATUR"



Schöne Seelen können viel ertragen

Kein Dichter prägte das Selbstbild der Deutschen stärker als Schiller. Er war zu
lange der Liebling aller Parteien. Mit anderen Worten ? er ist ganz
unausstehlich

Von Thomas E. Schmidt    
Das Entmutigende mit Schiller ist, dass ihn keiner gegen seine Liebhaber
verteidigt. Bekenntnisse für oder gegen ihn klingen heute künstlich erregt, denn
Zu- oder Abneigung setzen ein Mindestmaß an Entfernungsmöglichkeit, einen
winzigen Abstand voraus, in dem sich das Urteil frei bilden kann. Diesen Abstand
gibt es in Schillers Fall jedoch nicht. Kein deutscher Dichter ist
»offizieller«, keiner ist tiefer von der Kultur aufgesogen, ja in diese selbst
verwandelt worden.

Wahrscheinlich ist Schiller der einzige Autor, der in seiner Wirkungsgeschichte
vollkommen aufgeht. Anders als die Goethesche kennt seine nicht die dramatischen
Brüche, keine Versuche, sich ganz und gar von seiner Last zu befreien. Wer
Schiller verachtete, tat es wegen seiner pompösen Balladen oder wegen seines
Theaters der Überdeutlichkeit, also aus Geschmacksgründen. Dann geht es um Verse
wie: »Drum frisch, Kameraden, den Rappen gezäumt, / Die Brust im Gefechte
gelüftet! / Die Jugend brauset, das Leben schäumt, / Frisch auf! eh der Geist
noch verdüftet.« Was richten indessen ästhetische Einwände gegen die
oktopushafte nationale Umarmung aus, gegen den charakterfesten Willen zur
Inanspruchnahme durch die Kleriker und die Verwalter des deutschen Geistes? Ihre
Werte mochten sie nie ohne Vorgedachtes und Vorgedichtetes anpreisen, gerieten
bei Goethe ins Schwimmen, fanden aber bei Schiller festen Grund.

Niemand ist heute mehr mit Schiller allein, als Einzelner kann keiner zu ihm
zurück. Jede Lektüre, die sich unvoreingenommen gibt, wird an den unzähligen
Stimmen irre, die durch Schiller hindurch mitreden, Akademiepräsidenten,
wichtige Dichter, Lehrer und Professoren, mit Krawatte oder im Rolli, Längs- und
Querdenker. Schiller ist immer währender geistiger Overground, der Horror für
jede Art von Gegenkultur. Sein Name ist der Glockenklang des Affirmativen,
gleichgültig, ob sich die herrschende Kultur als einverständige oder als
ablehnende versteht. Selbstverständlich ist Schiller heute auch der Mann einer
allgemeinen Kritik an der Gegenwart. Er ist immer oben.

Und er tat viel dafür, nach oben zu gelangen. Seit den Räubern suchte er die
nationale Bühne, empfand sich ? mit großer Strenge die eigene Person erziehend ?
als überpersönlichen Erzieher. Er blieb zeitlebens ein mit sich identischer
Bürger, anders als Goethe, der auch in den eigenen Abgrund sich zu blicken
traute, wo er den Minister gab und gravitätische Sentenzen dichtete. Goethe
verzeiht man das Epigrammatische, denn man weiß, dass er es besser wusste. Mit
Schiller ist das anders, Weisheiten wie »Kraft erwart ich vom Mann, des Gesetzes
Würde behaupt er, / Aber durch Anmut allein herrschet und herrsche das Weib«
sonderte er hundertfach ab, in Distichen und Jamben, so regelmäßig und süffig,
dass man von einer lyrischen Ontologie sprechen könnte. Was so klingt, das kann
schlechterdings nicht anders sein. In dieser Welt herrscht Ordnung. Ordnung und
Ödnis.

Gott ist tot und die Freiheit verloren: Auftritt des deutschen Philisters

Schiller bewunderte Goethes Genie des Mehrdeutigen, doch für sich beanspruchte
er Deutlichkeit. Die schlimmen Geburtswehen der modernen Welt erlebte er mit,
und es spricht sehr für ihn, dass er sich nie von einem rousseauistischen
Zivilisationspessimismus mitreißen ließ. Deswegen war er auch trotz der
Guillotinen sicher, den Balancepunkt der Moderne gefunden zu haben, ihren
wahren, unverfälschten Ursprung, ihr Energiezentrum: das Ich.

Aber an dieser Stelle beginnt auch der geistige Sonderweg der Deutschen in die
Moderne. Er führt über das reflektierende, empfindende, träumende Subjekt, also
übers weltverlorene Gemüt, separiert von anderen. Seit seiner Kant-Lektüre
entspringt die Klarheit von Schillers Dichtungen nicht mehr der französischen
oder der britisch-schottischen Aufklärung, sondern der deutschen philosophischen
Theorie. Es ist eine Klarheit des Idealismus, und das hatte Folgen für die
deutsche Literatur. Mit Schiller beginnt die Neigung, Dichtung als Ausdruck von
Theorieentwürfen zu lesen. Das Ideale war wichtig, nicht das Schöne oder gar das
Wirkliche. Entsprechend erschien auch die reale Welt als mehr oder minder
gelungener Ausdruck philosophischer Gedanken, einer Philosophie, die den Maßstab
für »Wirklichkeit« ins Ich verlagert hatte und nur dort Freiheit, Schönheit oder
politische Ziele fand. So überlebten die Deutschen in einer unvollkommenen Welt.
Sie trugen ja die vollkommene in sich.

Bestimmt ist Schillers Optimismus sympathisch, aber auch der Optimismus hat so
seine Dialektik. In den Ästhetischen Briefen erklärte er die Deutschen als
unzuständig für das Republikanische. Sein Bild von Geschichte blieb von der
blutigen Französischen, nicht von der glücklicheren amerikanischen Revolution
geprägt. Stattdessen, so Schiller, trage ein jeder die Freiheit in seiner
Person, als Chance zur Selbstvervollkommnung. Freiheit muss dann nicht mehr
gewonnen werden, sie ist ja ein unverlierbares Gut der Innerlichkeit.

Was als Programm der ästhetischen Erziehung formuliert wurde, kann man im
Rückblick auch als Aufruf zur kleinen Lösung verstehen: Ihr müsst es euch nicht
so schwer machen, das Gute liegt im Ich, und da liegt es gut. Ein Talent zur
Politik beförderte die ästhetische Erziehung in Deutschland jedenfalls nicht,
eher die Revolutionsunlust. Eine schöne Seele kann manches ertragen. Darüber hat
sich ein besonderer Typus von deutschem Kulturmensch gebildet, einer, der die
moderne Welt im Geiste zu beherrschen meint und ihr doch, weil sie am Ende nie
seinen Vorstellungen entspricht, zutiefst misstraut. Er fühlt sich unwohl in
einer Welt ohne metaphysische Sicherheiten, aber er glaubt fest daran, dass sie
alle in ihm schlummern. Er hat Angst in der Moderne, aber sein Gewissen ist
rein.

Es gelang den Deutschen lange Zeit, aus der Not der politischen Verspätung eine
Tugend der Kulturnation zu machen. Sie wählten das Leben im Normativen, in der
Idealwelt der richtigen Werte, an deren Wesen später sogar die Welt genesen
sollte. Natürlich gab es auch Republikaner im 19. Jahrhundert, doch sie waren
seit 1848 erledigt. Danach trumpften die Machtpolitiker auf und die
Kulturidealisten. Auf dem Höhepunkt der Schiller-Manie von 1859, als der
»Dichter der Nation« in Volksfesten gefeiert wurde, war die Chance zur
nationalen Einheit in Freiheit lange perdu. Desto energischer beschwor man sie
im Ideal.

Danach sog das deutsche Bürgertum seine Lebensorientierung aus Schillers
Dichtungen, so gierig, wie es keinem Autor je widerfuhr: »Arbeit ist des Bürgers
Zierde, / Segen ist der Mühe Preis, / Ehrt den König seine Würde, / Ehret uns
der Hände Fleiß.« Es ist kein Widerspruch, dass die verschärfte Beschwörung des
Freiheitspathos in einer Zeit anhob, die sich ganz der Nützlichkeit und der
Macht verschrieben hatte. David Friedrich Strauß, auch er ein Herold der
anstrengungslosen Moderne, verkündete 1872 in seinem Erfolgsbuch Der alte und
der neue Glaube das Ende der Offenbarungsreligion und der sozialen Bindekraft
der Konfessionen. In seinen Augen konnten jedoch Bildung und Kultur das
Verlorene mühelos ersetzen. Nietzsche kommentierte das mit den Worten: »Der
Philister als Stifter der Religion der Zukunft ? das ist der neue Glaube in
seiner eindrucksvollsten Gestalt; der zum Schwärmer gewordene Philister ? das
ist das unerhörte Phänomen, das unsere deutsche Gegenwart auszeichnet.«

Über Bildung und Wohlstand verfügte das deutsche Bürgertum also, über
Arbeitsethos und Kunstsinn ? in einem Wort: über Bürgerlichkeit. Eine
bürgerliche Gesellschaft existierte deswegen noch nicht. Am Ende des 19.
Jahrhunderts erinnerte dann Max Weber die Deutschen an den Preis, der fürs gute,
selbstgerechte Leben zu entrichten war: Nicht sie, die Bürger, hatten die Nation
geschaffen, sondern Bismarck. Die Bürgerlichkeit war teuer mit politischem
Gehorsam bezahlt.

So feierte sich die eingebildete Freiheit in der Literatur, im Don Karlos oder
dem Wallenstein, vor allem aber im Lied von der Glocke, diesem Superhit vom
richtigen Leben im falschen. Die Moderne stellte zu diesem Zeitpunkt keine
Ansprüche ans freiheitliche Handeln ? übrigens auch keine wirklichen
ästhetischen mehr. Moderne war nicht länger ein unerfülltes Vorhaben, sondern
eine saturierte Lebensfahrt, eine Aufgabe der Vermittlung von richtigen
Kulturwerten.

Die Spaßgesellschaft oder Der Mensch spielt, wo er kann

Schiller entkam seiner Rolle als nationaler Stichwortgeber auch nicht im 20.
Jahrhundert. Sein Werk schwoll an wie ein Sauerteig, in dem Kantische Ethik,
Kulturprotestantismus und obrigkeitsstaatliches Denken, säkularer Zukunftsglaube
und ästhetische Metaphysik ihre Blasen warfen. Sozialisten konnten sich auf
Schiller berufen und Nationalsozialisten, auch wenn Hitler der Tell nicht
behagte. Thomas Mann rettete Schiller für die Demokratie, die DDR bot ihm ebenso
eine Heimstatt.

Das kann man als Zeichen literarischer Qualität werten, aber ebenso gut als ein
kulturgeschichtliches Fiasko. Wo Deutsche sich als die Avantgarde des guten
Gewissens fühlten, als »ganze Menschen« und Vollsubjekte angesichts einer
halbierten Realität, zitierten sie auch schon aus dem Karlos. Dass Wissen und
Moral, Kunst und Politik gefahrlos miteinander zu verschmelzen seien, dass die
Kunst irgendwie ethisch, die Ethik gewiss, die Erkenntnis ästhetisch sei, ja
Politik im Kern nichts anderes als einen philosophischen Bildungsauftrag
darstelle, bleibt bis heute ein umfassendes Wellness-Programm für die deutsche
Seele. Der Einzelne steht über allem, und die Kraft seiner Ideen veredelt die
bucklige Wirklichkeit eines Tages zu einer fehlerlosen Ganzheit.

Naturgemäß war auch Achtundsechzig nicht ohne Schiller denkbar. Herbert Marcuse
wollte Zwänge im Gedanken einer »nicht-repressiven« Kultur aufheben. Er berief
sich auf den Schillerschen Satz, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er
spiele. Der Mensch spielte. Und wie. Er spielte auch dann noch weiter, als die
Parolen der Systemveränderung in den düsteren Nebeln des Deutschen Herbstes
verweht waren. Vermutlich standen die vergangenen dreißig Jahre nachhaltiger im
Zeichen Schillers, als selbst seine Erbepfleger zu träumen wagten. Die Spätblüte
der Bundesrepublik: eine verwirklichte ästhetische Utopie.

Denn was die Soziologen mit dem spröden Wort von der »postmaterialistischen
Werteorientierung« bezeichneten ? nie mehr schuften, sparen, sich
zusammenreißen, lieber sich tief spüren und verwirklichen ?, das war die
endgültige Entlastung vom Nützlichen, von allem, was noch knechtete. Bestätigten
zur selben Zeit nicht auch die Philosophen, dass die Wirklichkeit nur ein Schaum
sei, dass es nichts mehr zu erkennen, sondern nur noch zu interpretieren gebe?
Die Apotheose des Schillerschen Subjekts, das sich endlich ganz frei gemacht
hatte ? die Spaß- und Freizeitgesellschaft löste den deutschen Idealismus ein,
als Sieg Schillers über Hegel. Endlich hatte der große Gedanke die Welt
bezwungen. So schön war das?

Inzwischen blickt man auch auf diese Spielwelt schon wieder zurück. Schiller
bleibt ? weniger ein Theoretiker der inneren Befreiung denn ein tröstender
Weltweiser, ein Minimalidealist. Schwer drückt heute die Wirklichkeit auf den
Schultern, der Kapitalismus ist böse, Reformen machen keine Freude, die
wiedervereinte Nation auch nicht. Das Schiller-Jahr 2005 wird den Dichter wieder
nach erleuchtenden Theoriesplittern durchflöhen, nach kleinen Kristallen, die
den Blick in eine bessere Welt eröffnen.

»Bildung«, »Erziehung«, »Natur«, »Wesen des Menschen«, alle Vokabeln sind schon
wieder da. Wer würde keine wichtige Miene aufsetzen und nicht staatstragend
mitreden? Aus dem Lager der kulturellen Autoritäten wird Schiller nie, niemals
entkommen. Man wird sich nun mit ihm gegen eine Welt munitionieren, die Ekel
erregt. Das Utopische wird sich wohl ganz klein machen, zurückziehen auf den
Ich-Kern. Schiller sagt ja, das Ich, das voller Ideale steckt, werde am Ende
siegen. Schiller, meine Zuversicht: »Mit den Geistern speist er droben, / Ließ
uns hier allein, / Daß wir seine Taten loben / Und ihn scharren ein.«

(c) DIE ZEIT 04.01.2005 Nr.2