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"Manchmal stehen wir
auf..."
von Norbert
Hochreutener
Manchmal stehen wir auf
Stehen wir zur Auferstehung auf
Mitten am Tag
Mit unserem lebendigen Haar
Mit unserer atmenden Haut.
...
Geordnet in geheimnisvolle Ordnung
Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.
Marie Luise Kaschnitz
Das Gedicht rührt an die tiefe
menschliche Sehnsucht nach Ganzsein, nach einem unverstellten
Leben. Es ist der Wunsch, ganz da zu sein mit allem, was wir sind,
mit Haut und Haar wach und klar. Wir möchten aufstehn
aus einem Leben, das uns aufreibt und zerstückelt mit tausend
Ansprüchen und tausend Ablenkungen, aufstehn aus einem nur
«gefristeten», einem ungeordneten Leben, aufstehn
und heil sein.
Die Auferstehung, die Marie Luise Kaschnitz beschreibt, meint nicht
ein fernes Jenseits: Sie meint unser Leben hier und jetzt:
«Manchmal stehen wir auf mitten am Tag.» Aber
gleichzeitig weist solche Auferstehungserfahrung über sich
selbst hinaus, über das Jetzt und Hier «in ein Haus aus
Licht».
Die Auferstehung der Osterbotschaft kommt aus der Nacht aus
einer gottverlassenen Nacht. Da schreit der Menschensohn:
«Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist
fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage? Mein Gott, ich rufe
bei Tag, doch du gibst keine Antwort; ich rufe bei Nacht und finde
doch keine Ruhe.»
Als Seelsorger in einer psychiatrischen Klinik begegne ich immer
wieder Menschen, die solche Nächte erleiden. In einer
Depression kann sich das ganze Leben verdunkeln, alles verwandelt
sich in gottverlassene Nacht. Eine Frau beschrieb ihren Zustand so:
«Ich bin traurig, ich bin mehr als traurig, ich bin
depressiv. Ich bin in einer Eiswüste, in einer
Gletscherspalte. Riesige kalte Wände türmen sich rechts
und links von mir auf. Wenn ich mich aus eigener Kraft an ihnen
hinaufziehen will, gleiten meine Finger ab, und ich falle wieder
ins Eis. Wie werde ich noch enden? Ich fühle mich wie
gelähmt. Es sind noch andere da, in der gleichen Dunkelheit
wie ich. Wir alle sind darin so versunken, dass wir einander nicht
mehr helfen können.»
Ostern kommt aus solcher Nacht. Es ist die Morgendämmerung,
das erste Licht. Da begegnet der auferstandene Christus der
weinenden Maria von Magdala, die sich in die Grabkammer
hineinbeugt. «Maria!», sagt er. Sie wendet sich ihm zu
und erkennt ihn. «Rabbuni!», sagt sie.
Als sie sich an ihn klammern möchte, schickt er sie auf den
Weg, sie soll die Osterbotschaft weitertragen. Es wird ein langer
Weg bis heute. Auferstehung ist keine «billige Gnade»
(Dietrich Bonnhoeffer) mit schönen Gefühlen und Gedanken,
mit denen wir ein paar Kerzen anzünden und es dabei bewenden
lassen. Ostern ist «teure Gnade», sie hat einen Preis.
Um konkret zu bleiben und auf die seelisch oder körperlich
Kranken, die Ausgeschlossenen und Bedrängten
zurückzukommen, auch da hat die Auferstehung aus dem Leid
ihren Preis. Sie kostet die Güte und Zeit von Menschen, die
andere in den gottverlassenen Nächten begleiten und ausharren
bis zur Morgendämmerung. Sie kostet kundige Pfleger und
Pflegerinnen, Ärzte und Seelsorgerinnen und viele andere, die
neues Leben fördern. Ostern kostet unser Verständnis
für leidende Menschen und unsere Geduld, aber auch
sozial-politische Entscheidungen und finanzielle Mittel.
Und doch bleibt jede Auferstehung eine Gnade bei allem Tun
uns entzogen. Es ist Gnade, wenn die Morgendämmerung die
lange Nacht bricht und die Stimme ruft: «Maria!».
Nachtrag: Es geht nicht um die «andern», es geht um uns
selbst. Jeder und jede kann betroffen sein. Auferstehung geht alle
an und Auferstehung ist konkret: mit unserm lebendigen Haar... mit
unserer atmenden Haut.
Norbert Hochreutener ist
Pastoralassistent in Herisau und Seelsorger in der Psychiatrischen
Klinik Herisau.
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