LITERATURTIP:

11. September; etc.



bücher, bücher -
das Literaturmagazin der Neuerscheinungen


23. März 2002 von 22.15 - 22.45 Uhr





  • Don DeLillo:
    "In den Ruinen der Zukunft"

    ISBN 3462029797
    EUR 2,50
    Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln


    "Jetzt hat eine kleine Gruppe Männer unseren Horizont verändert, wortwörtlich. Wir sind zurückgefallen, zeitlich und räumlich."
    Der amerikanische Autor Don DeLillo beschreibt in einem Aufsatz, den ich Ihnen auch sehr empfehlen möchte, unmittelbar nach dem 11. September, wie alle Bilder ihm vorführen, dass dieses Ereignis seine Vorstellungskraft sprengt. Keine Analogie, kein Vergleich kann ihm diese Katastrophe gnädig abmildern. Bevor die Worte einsetzten, ist der Ur-Schrecken immer schon da. Bis in die kleinsten Partikel sieht er sein Leben verändert. Alle Errungenschaften des Westens zeigen plötzlich unter ihrem schönen Gesicht ihre Totenfratze. Und doch ist er sich sicher: New York wird alles überstehen.
    (Iris Radisch)




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das Literaturmagazin der Neuerscheinungen


23. März 2002 von 22.15 - 22.45 Uhr






  • Haruki Murakami:
    "Tanz mit dem Schafsmann"

    ISBN 3832155333
    EUR 24,90
    DuMont Verlag, Köln



    Was immer man von ihm hält: Haruki Murakami ist Kult. Er hat den Blues, er kennt die Melodie des liebesleeren und von Sehnsüchten zerfressenen Großstadtlebens junger Leute überall in der westlichen Welt. Viel Arbeit, wenig Frauen, noch weniger Lebensfreude ist der magische Dreiklang, aus dem der japanische Autor seit Jahren einen Erfolgstitel nach dem anderen komponiert. "Kitsch", "rote Karte" schreien die einen. Von wunderbar lakonischen Liebesromanen schwärmen die anderen. Fest steht einzig: nichts ist so schön wie das, was so richtig schön traurig ist.

    Text des Beitrags:

    Tokyo. Die 30-Millionen-Stadt. Einer aus der Masse: Ein Werbetexter, gutmütig, Normaltyp. Werbung findet er abartig. Er macht sie trotzdem. Bringt halt Geld. Seine Frau hat ihn verlassen. Warum, weiß er nicht. Er ißt gut, bügelt selbst, trinkt gerne Bier und hört, wie viele Japaner, westliche Pop-Musik. Das Leben findet er okay. Hin und wieder schläft er mit einer Frau. Doch die Sehnsucht nach der großen, erfüllten Liebe nagt an ihm. Zu welchen Wahnvorstellungen der unauslöschliche Liebesdurst führen kann, davon erzählt der japanische Erfolgsautor Haruki Murakami immer wieder in seinen Romanen. In seinem 1988 verfassten "Tanz mit dem Schafsmann" sorgt ein alter weiser Mann auf magische Weise dafür, dass der Held des Romans schließlich zu seinem Glück findet.

    Doch der Weg zum Glück ist voller Irritationen. Er führt durch das Dickicht der Städte. Überall hört er Stimmen. Eine sagt, daß irgendwo, an einem entfernten Ort, jemand um ihn weint. Plötzlich im Kino erkennt er eine Spur: Da ist sie wieder, Kiki, die Traumfrau. War er mit ihr zusammen in diesem abgefuckten Hotel in Sapporo? Was ist mit Yuki, der 15 jährigen, um die sich niemand kümmert. Bei ihrem Anblick hört er ein Steinchen in die tiefste Tiefe seines Herzens plumpsen. Oder liebt er die geheimnisvolle Empfangsdame in diesem fürchterlichen Kettenhotel. Haben sie nicht gemeinsam gezittert in diesem großartigen Gefühl des Unheimlichen, Bedeutungsvollen? Die Suche nach der Traumfrau beherrscht den Großstadt-Einzelgänger immer intensiver. An Arbeit ist bald nicht mehr zu denken. Wozu auch? Die ist sowieso nur hochkapitalistische Wegwerfware.

    Tanze hat der Schafsmann geraten. Tanze, solange die Musik spielt. Dann kommst Du ans Ziel. - Nur: Wo ist sie? Da! Kiki! Jetzt ist sie wieder verschwunden in der Menge. - Bevor der Held des Romans glücklich werden kann, muß er eine Talfahrt durch die Tiefe seiner Gefühle antreten. Er trifft Gontanda, ein Schulfreund. Der hat es zum Filmstar gebracht. Sie ziehen durch das nächtliche Tokyo. Alles auf Spesen, insbesondere Sex. Wohl normal im fortgeschrittenen Kapitalismus, denkt er. Schließlich macht der Film-Job den Freund so fertig, daß er zum Zwangsneurotiker verkommt, ein Call-Girl nach dem anderen umbringt und schließlich sich selbst. In einem geheimnisvollen surrealen Raum tauchen Skelette auf. Wer sind sie? Kiki? Gontanda? Wer bringt hier alle um? Das Gefühl immer mehr geliebte Menschen zu verlieren stellt sich beim Helden ein. Sind es wirklich Tote oder ist alles nur ein Traum?

    Schließlich entführt die Bildungsreise der Gefühle den einsamen Großstadtnomaden nach Hawaii. Am Strand von Waikiki bietet sich ihm die Gelegenheit, besorgte väterliche Gefühle zu entwickeln. Yuki, die 15jährige verschüchterte, seelisch Verwahrloste, die er in das Ferienparadies begleitet, entpuppt sich als gute Surferin und unter seiner geduldigen Betreuung als warmherziges, liebevolles Mädchen.

    Immer stärker wird die Angst, Yuki oder das Edel-Call-Girl Kiki, oder die zurückhaltende Empfangsdame im Kettenhotel von Sapporo zu verlieren. Verlustgefühl, hört er sich sagen, kein angenehm klingendes Wort.

    Der gebeutelte Held fühlt immer mehr, wie ihm die Realität entgleitet. Bügeln, kochen, essen: Das gewohnte Einerlei bietet keinen Halt mehr. Der Liebeshunger des inzwischen völlig Vereinsamten steigert sich ins Unerträgliche. Er irrt umher, reist zu der Angebeteten aus dem öden Hotelkasten in Sapporo. Die ihn zunächst einmal hinhält, um die Sehnsucht noch einmal ins Unerträgliche zu steigern. Und dann: Endlich! Endlich! schlüpft sie zu ihm ins Bett.

    Jetzt. Das ist sie, das ist die wirkliche Realität, ruft sich der Held zu. Diesen Augenblick, den muß er festhalten. Ewig soll es so bleiben. Kitsch, Ironie oder doch tiefere Bedeutung? Murakami läßt uns absichtlich im Unklaren. Mit seiner meisterlichen Sprache führt er uns sicher durch den scheinbar leergewordenen Alltag. Denn eines hat auch dieser nicht verändern können: Das Gefühl für die Liebe.
    (Henning Burk)

  • Haruki Murakami:
    "Untergrundkrieg. Der Anschlag von Tokio"

    ISBN 3832156976
    EUR 18,00
    DuMont Verlag, Köln

"Den Morgen des 20. März 1995 verbrachte ich in meinem Haus ... Ich hörte Musik und sortierte meine Bücher. Keine Wolke stand am Himmel. Es war ein strahlender, wunderschöner Morgen".
Das schreibt Haruki Murakami in dem Buch "Untergrundkrieg", das ebenfalls in diesen Tagen erschienen ist. Der Morgen des 20. März war der Morgen, an dem in den Zügen der Tokyoer U-Bahn mehrere Päckchen mit dem Giftstoff Sarin ausgelegt wurden. Es war der Morgen der größten Nachkriegskatastrophe Japans. Der Morgen, an dem Hunderte Angestellte auf dem Weg zur Arbeit lebensgefährlich verletzt wurden, weil religiöse Fanatiker beschlossen hatten, dass ihr Leben nichts mehr wert sei.
Murakami ist überzeugt davon, dass es seine Aufgabe als Schriftsteller ist, aus diesem tragischen Ereignis etwas zu lernen. Er will das Unfassbare verstehen, indem er es von allen Blickwinkeln betrachtet.
Er befragt die Opfer. Meist biedere Arbeitnehmer, die jeden Morgen denselben Zug durch dieselbe Tür betreten. Leute, die zwölf Stunden im Büro verbringen und freiwillig schon eine Stunde vor Arbeitsbeginn erscheinen. Brave Bürger, die selbst in Todesangst nicht wagen miteinander zu sprechen und die trotz Erstickungsgefühlen ihren Platz nicht verlassen.
Und er hat die Täter, die Sektenmitglieder, befragt. Labile Charaktere, Gottsuchende, Mystiker, Asketen, Zivilisationsmüde. Menschen, die sich den Tretmühlen des Kapitalismus entziehen wollen. Leute, die falsche Antworten auf richtige Fragen gefunden haben.
Murakami will herausfinden: Was haben all diese Leute gefühlt? Was haben sie gesehen? Was haben sie gedacht? Das Unbegreifliche muss Literatur werden. "Was wir brauchen nach dem 20. März", sagt Murakami, "sind neue Worte, mit denen wir eine neue Geschichte erzählen können".
"Untergrund" ist der Anfang dieser neuen Geschichte. Eine bedrückende und faszinierende Dokumentation über das Leben nach der Katastrophe.
(Iris Radisch)




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23. März 2002 von 22.15 - 22.45 Uhr




  • Tim Page:
    "The Mindful Moment"

    ISBN 3882434422
    EUR 49,00
    Steidl Verlag, Göttingen



    Bilder, die die Vorstellungskraft sprengen, hat die Welt schon oft gesehen. Dass Fotografen Jagd auf solche Bilder machen, gehört zu ihrem Beruf. Und nicht selten waren es ihre Fotos, die die Welt veränderten.
    So auch die die beeindruckende Fotodokumentation des amerikanischen Fotographen Tim Page: "The Mindful Moment".
    (Iris Radisch)



    Text des Beitrags:

    Der Vietnam-Krieg. Ein Krieg nicht nur der Waffen, sondern auch der Bilder. Ein Krieg, der einen völlig neuen Korrespondententypus hervorbrachte: Den freiberuflichen Bilderjäger, der auf eigene Rechnung loszieht und seine Filme oder Fotos an Agenturen verkauft.

    Ein Großer dieses Genre ist der amerikanische Fotograf Tim Page, von dem auch dieses Foto stammt. Er war ein Abenteurer und Sinnsucher, als der Zufall ihn Mitte der 60er Jahre als 20-Jährigen nach Indochina verschlug. Jetzt hat er ein Resumee gezogen. Sein Foto- und Textband "The Mindful Moment" ist Erinnerung und Reflexion zugleich.

    Er gehörte einst zu jener Generation der easy rider, die den großen Kick suchte und schließlich als Dokumentartisten ferner Kriege an der Front landete. Page war einer der Männer, die, wie er schreibt, loszogen, "um die pervertiertesten Augenblicke des Menschen zu beobachten und festzuhalten".

    Ein junger GI, von Angst gezeichnet.
    Ein sogenannter "Heldenfriedhof" der Amerikaner.

    In den Texten, die die Fotos begleiten, legt Tim Page auch Rechenschaft über sich selbst ab: Über den Krieg als Rauscherlebnis, über die Euphorien und Verzweiflungen beim Ablichten all der Greuel, die er sah.

    Tief bewegend ist die Schilderung seiner Freundschaft mit dem Kriegsreporter Sean Flynn, dem Sohn des Filmschauspielers Errol Flynn. Eine Männerfreundschaft im Zeichen des Todes, also schier unverbrüchlich. Doch Flynn wird eines Tages als vermisst gemeldet, Tim Page selbst durch eine Mine so schwer am Kopf verletzt, daß er nur durch mehrere Operationen in den USA gerettet werden kann.

    Erst 10 Jahre später kehrt er nach Vietnam zurück, kommt endlich dem Schicksal seines Freundes Sean Flynn auf die Spur, erfährt, dass der einst von den Roten Khmer entführt und schließlich getötet worden war.

    Nach all den Zerstörungen des Kriegs trifft er in Vietnam auf eine neue Vitalität, auf die Wiederbelebung der buddhistischen Religion, die Tim Page, den vehementen Kritiker des westlichen Profitdenkens, schon lange fasziniert. Nach seinem Weg durch den Krieg, einst gepflastert mit rauschhaften Todessehnsüchten und dem Größenwahnwahn, unsterblich zu sein, findet er endlich "den Ort, an dem die erlösende, die absolute Stille herrscht." So hat Tim Page schließlich am einstigen Kriegsschauplatz Vietnam seinen inneren Frieden gefunden.

    (Elisabeth Pfister)



Quelle: Hessisches Fernsehen

www.hr-online.de