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das Literaturmagazin der Neuerscheinungen
23. März
2002 von 22.15 - 22.45 Uhr
-
Haruki Murakami:
"Tanz mit dem Schafsmann"
ISBN 3832155333
EUR 24,90
DuMont Verlag, Köln
Was immer man von ihm hält: Haruki Murakami ist Kult. Er hat
den Blues, er kennt die Melodie des liebesleeren und von
Sehnsüchten zerfressenen Großstadtlebens junger Leute
überall in der westlichen Welt. Viel Arbeit, wenig Frauen,
noch weniger Lebensfreude ist der magische Dreiklang, aus dem der
japanische Autor seit Jahren einen Erfolgstitel nach dem anderen
komponiert. "Kitsch", "rote Karte" schreien die einen. Von
wunderbar lakonischen Liebesromanen schwärmen die anderen.
Fest steht einzig: nichts ist so schön wie das, was so richtig
schön traurig ist.
Text des Beitrags:
Tokyo. Die 30-Millionen-Stadt. Einer aus der Masse: Ein
Werbetexter, gutmütig, Normaltyp. Werbung findet er abartig.
Er macht sie trotzdem. Bringt halt Geld. Seine Frau hat ihn
verlassen. Warum, weiß er nicht. Er ißt gut,
bügelt selbst, trinkt gerne Bier und hört, wie viele
Japaner, westliche Pop-Musik. Das Leben findet er okay. Hin und
wieder schläft er mit einer Frau. Doch die Sehnsucht nach der
großen, erfüllten Liebe nagt an ihm. Zu welchen
Wahnvorstellungen der unauslöschliche Liebesdurst führen
kann, davon erzählt der japanische Erfolgsautor Haruki
Murakami immer wieder in seinen Romanen. In seinem 1988 verfassten
"Tanz mit dem Schafsmann" sorgt ein alter weiser Mann auf magische
Weise dafür, dass der Held des Romans schließlich zu
seinem Glück findet.
Doch der Weg zum Glück ist voller Irritationen. Er führt
durch das Dickicht der Städte. Überall hört er
Stimmen. Eine sagt, daß irgendwo, an einem entfernten Ort,
jemand um ihn weint. Plötzlich im Kino erkennt er eine Spur:
Da ist sie wieder, Kiki, die Traumfrau. War er mit ihr zusammen in
diesem abgefuckten Hotel in Sapporo? Was ist mit Yuki, der 15
jährigen, um die sich niemand kümmert. Bei ihrem Anblick
hört er ein Steinchen in die tiefste Tiefe seines Herzens
plumpsen. Oder liebt er die geheimnisvolle Empfangsdame in diesem
fürchterlichen Kettenhotel. Haben sie nicht gemeinsam
gezittert in diesem großartigen Gefühl des Unheimlichen,
Bedeutungsvollen? Die Suche nach der Traumfrau beherrscht den
Großstadt-Einzelgänger immer intensiver. An Arbeit ist
bald nicht mehr zu denken. Wozu auch? Die ist sowieso nur
hochkapitalistische Wegwerfware.
Tanze hat der Schafsmann geraten. Tanze, solange die Musik spielt.
Dann kommst Du ans Ziel. - Nur: Wo ist sie? Da! Kiki! Jetzt ist sie
wieder verschwunden in der Menge. - Bevor der Held des Romans
glücklich werden kann, muß er eine Talfahrt durch die
Tiefe seiner Gefühle antreten. Er trifft Gontanda, ein
Schulfreund. Der hat es zum Filmstar gebracht. Sie ziehen durch das
nächtliche Tokyo. Alles auf Spesen, insbesondere Sex. Wohl
normal im fortgeschrittenen Kapitalismus, denkt er.
Schließlich macht der Film-Job den Freund so fertig,
daß er zum Zwangsneurotiker verkommt, ein Call-Girl nach dem
anderen umbringt und schließlich sich selbst. In einem
geheimnisvollen surrealen Raum tauchen Skelette auf. Wer sind sie?
Kiki? Gontanda? Wer bringt hier alle um? Das Gefühl immer mehr
geliebte Menschen zu verlieren stellt sich beim Helden ein. Sind es
wirklich Tote oder ist alles nur ein Traum?
Schließlich entführt die Bildungsreise der Gefühle
den einsamen Großstadtnomaden nach Hawaii. Am Strand von
Waikiki bietet sich ihm die Gelegenheit, besorgte väterliche
Gefühle zu entwickeln. Yuki, die 15jährige
verschüchterte, seelisch Verwahrloste, die er in das
Ferienparadies begleitet, entpuppt sich als gute Surferin und unter
seiner geduldigen Betreuung als warmherziges, liebevolles
Mädchen.
Immer stärker wird die Angst, Yuki oder das Edel-Call-Girl
Kiki, oder die zurückhaltende Empfangsdame im Kettenhotel von
Sapporo zu verlieren. Verlustgefühl, hört er sich sagen,
kein angenehm klingendes Wort.
Der gebeutelte Held fühlt immer mehr, wie ihm die
Realität entgleitet. Bügeln, kochen, essen: Das gewohnte
Einerlei bietet keinen Halt mehr. Der Liebeshunger des inzwischen
völlig Vereinsamten steigert sich ins Unerträgliche. Er
irrt umher, reist zu der Angebeteten aus dem öden Hotelkasten
in Sapporo. Die ihn zunächst einmal hinhält, um die
Sehnsucht noch einmal ins Unerträgliche zu steigern. Und dann:
Endlich! Endlich! schlüpft sie zu ihm ins Bett.
Jetzt. Das ist sie, das ist die wirkliche Realität, ruft sich
der Held zu. Diesen Augenblick, den muß er festhalten. Ewig
soll es so bleiben. Kitsch, Ironie oder doch tiefere Bedeutung?
Murakami läßt uns absichtlich im Unklaren. Mit seiner
meisterlichen Sprache führt er uns sicher durch den scheinbar
leergewordenen Alltag. Denn eines hat auch dieser nicht
verändern können: Das Gefühl für die Liebe.
(Henning Burk)
"Den Morgen des 20.
März 1995 verbrachte ich in meinem Haus ... Ich hörte
Musik und sortierte meine Bücher. Keine Wolke stand am Himmel.
Es war ein strahlender, wunderschöner Morgen".
Das schreibt Haruki Murakami in dem Buch "Untergrundkrieg", das
ebenfalls in diesen Tagen erschienen ist. Der Morgen des 20.
März war der Morgen, an dem in den Zügen der Tokyoer
U-Bahn mehrere Päckchen mit dem Giftstoff Sarin ausgelegt
wurden. Es war der Morgen der größten
Nachkriegskatastrophe Japans. Der Morgen, an dem Hunderte
Angestellte auf dem Weg zur Arbeit lebensgefährlich verletzt
wurden, weil religiöse Fanatiker beschlossen hatten, dass ihr
Leben nichts mehr wert sei.
Murakami ist überzeugt davon, dass es seine Aufgabe als
Schriftsteller ist, aus diesem tragischen Ereignis etwas zu lernen.
Er will das Unfassbare verstehen, indem er es von allen
Blickwinkeln betrachtet.
Er befragt die Opfer. Meist biedere Arbeitnehmer, die jeden Morgen
denselben Zug durch dieselbe Tür betreten. Leute, die
zwölf Stunden im Büro verbringen und freiwillig schon
eine Stunde vor Arbeitsbeginn erscheinen. Brave Bürger, die
selbst in Todesangst nicht wagen miteinander zu sprechen und die
trotz Erstickungsgefühlen ihren Platz nicht verlassen.
Und er hat die Täter, die Sektenmitglieder, befragt. Labile
Charaktere, Gottsuchende, Mystiker, Asketen,
Zivilisationsmüde. Menschen, die sich den Tretmühlen des
Kapitalismus entziehen wollen. Leute, die falsche Antworten auf
richtige Fragen gefunden haben.
Murakami will herausfinden: Was haben all diese Leute gefühlt?
Was haben sie gesehen? Was haben sie gedacht? Das Unbegreifliche
muss Literatur werden. "Was wir brauchen nach dem 20. März",
sagt Murakami, "sind neue Worte, mit denen wir eine neue Geschichte
erzählen können".
"Untergrund" ist der Anfang dieser neuen Geschichte. Eine
bedrückende und faszinierende Dokumentation über das
Leben nach der Katastrophe.
(Iris Radisch)
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das Literaturmagazin der Neuerscheinungen
23. März
2002 von 22.15 - 22.45 Uhr
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Tim Page:
"The Mindful Moment"
ISBN 3882434422
EUR 49,00
Steidl Verlag, Göttingen
Bilder, die die Vorstellungskraft sprengen, hat die Welt schon oft
gesehen. Dass Fotografen Jagd auf solche Bilder machen, gehört
zu ihrem Beruf. Und nicht selten waren es ihre Fotos, die die Welt
veränderten.
So auch die die beeindruckende Fotodokumentation des amerikanischen
Fotographen Tim Page: "The Mindful Moment".
(Iris Radisch)
Text des Beitrags:
Der Vietnam-Krieg. Ein Krieg nicht nur der Waffen, sondern auch der
Bilder. Ein Krieg, der einen völlig neuen Korrespondententypus
hervorbrachte: Den freiberuflichen Bilderjäger, der auf eigene
Rechnung loszieht und seine Filme oder Fotos an Agenturen verkauft.
Ein Großer dieses Genre ist der amerikanische Fotograf Tim
Page, von dem auch dieses Foto stammt. Er war ein Abenteurer und
Sinnsucher, als der Zufall ihn Mitte der 60er Jahre als
20-Jährigen nach Indochina verschlug. Jetzt hat er ein Resumee
gezogen. Sein Foto- und Textband "The Mindful Moment" ist
Erinnerung und Reflexion zugleich.
Er gehörte einst zu jener Generation der easy rider,
die den großen Kick suchte und schließlich als
Dokumentartisten ferner Kriege an der Front landete. Page war einer
der Männer, die, wie er schreibt, loszogen, "um die
pervertiertesten Augenblicke des Menschen zu beobachten und
festzuhalten".
Ein junger GI, von Angst gezeichnet.
Ein sogenannter "Heldenfriedhof" der Amerikaner.
In den Texten, die die Fotos begleiten, legt Tim Page auch
Rechenschaft über sich selbst ab: Über den Krieg als
Rauscherlebnis, über die Euphorien und Verzweiflungen beim
Ablichten all der Greuel, die er sah.
Tief bewegend ist die Schilderung seiner Freundschaft mit dem
Kriegsreporter Sean Flynn, dem Sohn des Filmschauspielers Errol
Flynn. Eine Männerfreundschaft im Zeichen des Todes, also
schier unverbrüchlich. Doch Flynn wird eines Tages als
vermisst gemeldet, Tim Page selbst durch eine Mine so schwer am
Kopf verletzt, daß er nur durch mehrere Operationen in den
USA gerettet werden kann.
Erst 10 Jahre später kehrt er nach Vietnam zurück, kommt
endlich dem Schicksal seines Freundes Sean Flynn auf die Spur,
erfährt, dass der einst von den Roten Khmer entführt und
schließlich getötet worden war.
Nach all den Zerstörungen des Kriegs trifft er in Vietnam auf
eine neue Vitalität, auf die Wiederbelebung der buddhistischen
Religion, die Tim Page, den vehementen Kritiker des westlichen
Profitdenkens, schon lange fasziniert. Nach seinem Weg durch den
Krieg, einst gepflastert mit rauschhaften Todessehnsüchten und
dem Größenwahnwahn, unsterblich zu sein, findet er
endlich "den Ort, an dem die erlösende, die absolute Stille
herrscht." So hat Tim Page schließlich am einstigen
Kriegsschauplatz Vietnam seinen inneren Frieden gefunden.
(Elisabeth Pfister)
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