Zwischen Pietät und Heuchelei

Liebe stern-Leser!
Wer austeilt, der muss auch einstecken können. Wir haben in unserer Titelgeschichte über das einsame Leben und Sterben von Hannelore Kohl hart über ihren Mann geurteilt. Helmut Kohl habe in Berlin weiter Politik gemacht, anstatt sich zu Hause intensiv um seine einsame, gemüts- und lichtkranke Frau zu kümmern, die in ihrem Abschiedsbrief an ihn schrieb: „Ich habe über viele Jahre um Licht und Sonne gekämpft – leider vergebens.“

Wer austeilt, der muss auch einstecken können. Wir haben in unserer Titelgeschichte über das einsame Leben und Sterben von Hannelore Kohl hart über ihren Mann geurteilt. Helmut Kohl habe in Berlin weiter Politik gemacht, anstatt sich zu Hause intensiv um seine einsame, gemüts- und lichtkranke Frau zu kümmern, die in ihrem Abschiedsbrief an ihn schrieb: „Ich habe über viele Jahre um Licht und Sonne gekämpft – leider vergebens.“
Mein Editorial und der Bericht haben heftige Reaktionen ausgelöst. Wir bekamen 450 Briefe und Mails. Eine Hälfte war kritisch, die andere neutral oder zustimmend. In der Presse, vor allem der konservativen, überwog die Kritik. Einige Kollegen meinen, wir seien „niederträchtig“ und hätten den „Berufsstand auf Null gebracht“ („FAZ“), sprechen von „Verrat“ („Bild“) oder sind fassungslos, „dass liberale Journalisten in einer Gnadenlosigkeit über fremder Leute Leben urteilen“ („Süddeutsche Zeitung“).
Interessanterweise haben namhafte, mit den CDU-Interna vertraute Kollegen gerade jener Blätter, deren Leitartikler und Kolumnisten sich besonders ereiferten, angerufen und gratuliert: „Ihr hattet als Einzige den Mut, die Wahrheit zu schreiben.“
Die „tageszeitung“ fand, der stern habe seinem Ruf als Wundertüte wieder alle Ehre gemacht. Der frühere SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz, der heute Kommunikationswissenschaft an der Universität St. Gallen lehrt, schrieb in der „Woche“, das Stück sei eine „gut recherchierte, einigermaßen vorsichtig formulierte Geschichte“, und sein Kollege Bernd Gäbler, demnächst Leiter des Grimme-Instituts, fragte: „War sie schamlos? Nein, eher so deutlich, wie man es vom ‚Spiegel‘ gewohnt ist.“ Die „Frankfurter Rundschau“ schließlich befand am vergangenen Wochenende: „Der stern hat nur gewagt, sich ... der allgemeinen Dianaisierung der Kanzlergattin entgegenzuwerfen.“
Die meisten Blätter, die dem stern voreilige Schuldzuweisung vorwarfen, nahmen es kommentarlos hin, dass der Kohl-Intimus Monsignore Erich Ramstetter in seiner Traueransprache politischen Gegnern und kritischen Journalisten die Schuld am Freitod Hannelore Kohls zuschob. In Anspielung auf Kohls Schwarzgeldkonten-Affäre sagte er: „Alle Unterstellungen, Verleumdungen und Hasserfahrungen wurden zu eurem gemeinsamen bitteren Leid.“
„Das war eine Rede für Kohl, den Mann, der immer Recht behalten muss“, kommentierte der „Tagesspiegel“. „Nicht sie hatte das schwere Schicksal, nein, er. Nicht ihr Leid war bitter, nein, das gemeinsame.“
So weit die anderen Medien. Mit der Kritik am stern setzen wir uns intensiv auseinander. Wenn Gefühle von Angehörigen und Lesern verletzt wurden, nehmen wir das ernst. Doch wo verläuft die Grenze zwischen Pietät und Heuchelei, peinlicher Hofberichterstattung und kritischem Journalismus?
Einen Fehler haben wir offensichtlich gemacht. Wir schrieben, Kohl sei im Privatflugzeug des Medienzaren Leo Kirch zur Hochzeit seines Sohnes Peter in die Türkei geflogen, „im Tross auch seine langjährige Vertraute Juliane Weber“. Inzwischen ließ Kohl per Leserbrief in der „Welt“ dementierten. Er sei vielmehr mit einer Linienmaschine aus Frankfurt gekommen, Juliane Weber gemeinsam mit ihrem Mann in einer Linienmaschine aus Düsseldorf.
Unsere Information stammte aus hochrangigen CDU-Quellen, Kohls Büro war bei Redaktionsschluss für eine Stellungnahme nicht erreichbar gewesen. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

Herzlichst Ihr

Thomas Osterkorn
Chefredakteur