Die Wirbelsturm-Katastrophe in Lingen (Ems) am 1. Juni 1927 und ihr Zerstörungswerk.

Zusammengestellt von Herrn Bürgermeister Gilles (Lingen)

Vorwort

Eine furchtbare Wirbelsturmkatastrophe hat am 1. Juni 1927 die Stadt Lingen (Ems) und einen Teil der angrenzenden Landgemeinden heimgesucht und Zerstörungen angerichtet, die aller Beschreibung spotten. Zahlreiche Beileidsbekundungen sind bei der Stadtverwaltung in Lingen aus dem ganzen Reiche eingegangen. Eine Hilfsaktion bei Parlamenten und Behörden hat sofort eingesetzt.

Die Wirbelsturmkatastrophe selbst, die von ihr angerichteten Zerstörungen und die einzelnen Schritte der Lingener Kommission, die nach Berlin entsandt wurde, sind in zahlreichen Zeitungsartikeln geschildert worden. Es fehlt aber an einer Sammlung und Zusammenstellung der einzelnen Berichte. Aus der Bevölkerung ist die Anregung gekommen, es möchten die Zeitungsberichte in einer kurzen Broschüre zusammengestellt werden, um eine Aufbewahrung für unsere Nachkommen zu erleichtern und zugleich durch Verbreitung der Broschüre weitere Kreise für die Hilfsaktion zu gewinnen. Dieser Anregung wird auch schon aus dem Grunde entsprochen werden, weil die Hoffnung besteht, daß aus dem Verkauf der Broschüre dem Fonds für den Wiederaufbau noch einige Mittel zufließen werden.

Lingen, im Juni 1927

Gilles
Bürgermeister

Schilderung eines Augenzeugen

Wie aus den Presseberichten hervorgeht, wurde die Katastrophe durch eine sog. Windhose verursacht, die am 1. Juni von Holland her über das Emsland hereinbrach und über dem Hümmling ins Oldenburgische weiterzog.

Über das Ergebnis der Windhose gibt ein Augenzeuge folgenden Bericht:

"Ich war in einem Laden, um Besorgungen zu machen und trat auf die Straße, als ich kurz nach 5 Uhr, nachdem sich die Luft verdunkelt hatte, von Südwesten her über Schepsdorf unter donnerähnlichem Getöse eine mehrere hundert Meter lange trichterförmige Wolkensäule sich der Stadt nähern sah. Ich dachte zuerst an ein nahendes Gewitter, oder an einen Brand, mußte aber bald darauf feststellen, daß es sich um eine Windhose handelte, die in den nächsten Minuten furchtbares Unglück über unsere alte friedlich daliegende Stadt Lingen bringen sollte. Was nun geschah, kann ich nicht mehr wiedergeben. Es herrschte ein furchtbares Sausen in der Luft, die Pfannen fielen schockweise von den Dächern, Balken und Sparren flogen durch die Luft. Ich suchte Schutz irgendwo, um nicht von den von den Dächern herabstürzenden Trümmern getroffen zu werden. Kaum hatte ich mich umgesehen und gefragt, was eigentlich passiert war, und - in nicht mehr als einer Minute war das furchtbare Unglück geschehen."

Das Zerstörungswerk

Der Berichterstatter der "Osnabrücker Volkszeitung", Redakteur F. Schumacher, Osnabrück, gibt von der Katastrophe folgende Schilderung (Osnabrücker Volkszeitung vom 2. Juni 1927):

Nach dem telephonischen Anruf, durch den uns Mitteilung von der großen Katastrophe gemacht wurde, brachte mich bald ein Auto in sausender Fahrt zu der Unglücksstätte. Meine Phantasie malte mir unterwegs entsprechend den ersten Mitteilungen Bilder schrecklicher Zerstörung vor, aber diese wurden von der Wirklichkeit noch übertroffen. Was ich sah, war so furchtbar in seinen Einzelheiten, daß ich in der Eile kaum Worte finde, um sie in allen Einzelheiten zu beschreiben.

Von den geradezu furchtbaren Wirkungen der Windhose konnte ich mich sodann auf meiner Rundfahrt überzeugen. Das Unglück nahte von Schepsdorf aus: wir wollen hier mit unserer Schilderung beginnen.

Da liegt zunächst hart an der Straße von Schepsdorf nach Lingen ein ländliches Haus, das von den Familien Bruns, Krämer, der Witwe Haverland, Frese und Hilmes bewohnt wird. Insgesamt sind dieses drei kleinere Häuser, die zum Teil mit ihren Grundmauern von der Windhose hochgehoben wurden, die Mauern sind geborsten, die Dächer abgedeckt. Gegenüber sehe ich einen Neubau, von der Familie Lampenschulte, von dem das Dach glatt abgedreht wurde. Furchtbare Verwüstungen hat die Windhose auch auf der Besitzung der Villa Windhoff angerichtet. Nicht nur daß das Dach des einen Gebäudes vollständig abgedeckt wurde: in den Gartenanlagen sind die Bäume entwurzelt, die Mauern umgeworfen, und in den Gartenanlagen sieht es aus, als ob kurz vorher eine Schlacht sich dort abgespielt habe. Auf der anderen Seite der Ems bei Hofbesitzer Möddel wurden die Scheunen abgedeckt. Wieder auf der anderen Seite, auf der "Gelgöskenstiege", ist ein Haus, bewohnt von den Familien Langemann und Kley, fast ganz dem Erdboden gleichgemacht. Auf der Straße weiter nach Lingen sind mehrere von den großen Bäumen der wundervollen Allee glatt entwurzelt, liegen glücklicherweise in den Wiesen, so daß die Straße hier nicht gesperrt ist.

Weiter nahm die Windsäule ihren Weg über den Kanal zu den sogenannten Bögen. Hier hat vor allem der Neubau der Familie van Kampen besonders stark gelitten. Bis auf die Umfassungsmauern ist das Haus vollständig zerstört. Unten im Hause hat Frau van Kampen mit ihrem Säugling im Zimmer gesessen während des Unwetters, glücklicherweise sind beide unversehrt geblieben. Die Wohnhäuser von Watzmut und Rodenwald sind gleichfalls sehr stark an den Dächern und am Mauerwerk geschädigt. Die von Herrn Dr. Bergmann bewohnte frühere Stöve'sche Apotheke ist völlig ihres Daches beraubt und der alte stabile Bau bis in die Grundfesten erschüttert. Eine Glasveranda ist spurlos weggeweht. Die Möbel im Zimmer des Hauses bilden mit den aus den Angeln geschleuderten Fenstern und Türen ein wüstes Durcheinander. Die Obstbäume sind entwurzelt, die Beete usw. verwüstet.

Die Windhose hat dann weiter ihren Weg genommen über die Innenstadt und zwar über Elisabethstraße, Schlachterstraße, Marktplatz, Gymnasialstraße, Klubstraße, Carolinenstraße, Baccumerstraße, Wall, Wilhelmstraße, Parkstraße, zu den Hofbesitzern Böhmer und Brögber und von da weiter zur örtlichen Stadtflur. Der alte Marktplatz mit seinem historischen Rathaus und den anderen alten und neuen Häusern bot ein geradezu grauenhaftes Bild. Von den Dächern gestürzte Pfannen und Sparren, Balken und Ziegelsteine der eingestürzten Giebel bedecken die schmalen, engen Straßen, die auf den Marktplatz münden. Über diese Trümmer hinweg sucht die Bevölkerung, die natürlich voll auf den Beinen war, ihren Weg, indem sie entweder Hilfe leistet, bei der Reparatur beschäftigt ist, oder aber die auf verschiedenen Dächern lagernden Bäume zu beseitigen sucht. Das Kobert'sche Haus ist vollständig abgedeckt, ebenfalls das gegenüberliegende Hammerle'sche Haus, wo die Trümmer bis in die Parterreräume gestürzt sind. Nebenan steht das Haus der Verlagsfirma van der Veldmann, von dem der Dachstuhl und der größte Teil des Giebels auf der einen Seite vollständig weggerissen wurden.

Von dem Rathaus ist ebenfalls das Dach abgedeckt, wogegen das Raker'sche Haus zum großen Teil eingestürzt ist. Aus den Trümmern des Raker'schen Hauses wurde ein 10jähriger Knabe namens Flerlage hervorgezogen, der zwar noch lebend zum Krankenhause befördert werden konnte, dessen Befinden aber zu den schlimmsten Befürchtungen Anlaß gibt. Mit welcher furchtbaren Gewalt der Wirbelsturm hier gewütet hat, mag daraus hervorgehen, daß von dem Bahrenhorst'schen Hause in der Schlachterstraße eine große Steinkugel abgehoben und durch die Mauer des Gasthauses "Ratskeller" geschleudert wurde, im Hause Uhr, Klavier usw. zertrümmernd. Schwer gelitten haben am Markt auch das Stadthaus, sowie die Häuser von Goldbach und Appelhans.

An Hand des Zerstörungswerkes kann man genau verfolgen, welchen Weg die Windhose genommen hat, in etwa 100 Meter Breite alles mit sich reißend, was ihr im Wege stand. In der Klubstraße wurde ein Teil der erst im vorigen Jahre erbauten Likörfabrik Lambers vernichtet. Dieser Teil des Gebäudes war vollständig eingestürzt. Dann führte mich mein Weg zu dem angrenzenden Schulplatz, wo der Wirbelsturm gleichfalls furchtbar wütete und die dort stehenden uralten Linden von 0.80 bis 1 Meter Durchmesser glatt knickte oder entwurzelte und sie zum Teil auf die Dächer der nebenstehenden Häuser warf, von denen sie mit viel Mühe von den Feuerwehrleuten und Mannschaften der Eisenbahnwerkstätte, welche sofort requiriert waren, entfernt wurden., damit weiteres Unheil vermieden werde. Arg gelitten haben auch die luthersche Kirche und das Finanzamtsgebäude am Schulplatz. Hier sind es vor allen Dingen die Dächer und die Giebel, die stark mitgenommen sind. Sehr groß ist auch der Schaden an Fensterscheiben und -rahmen. Kein Haus, das betroffen wurde, ist hiervon verschont geblieben. Entweder sind die Scheiben eingedrückt, oder die ganzen Fensterrahmen ausgehoben worden. In der Baccumerstraße auf dem mittleren Eingang zum Wall sind sämtliche Dächer und Giebel der Häuser eingestürzt. Nur mit Lebensgefahr konnten die Bewohner die Straßen passieren, und die Absperrungsmannschaften haben ihre liebe Not, die Passanten zurückzuhalten, um Verletzungen durch nachträglich herabstürzende Pfannen und Giebel zu verhüten. Vom Gerichtsgefängnis sind die Schornsteine eingestürzt; auch das Dach ist hier zum größten Teile abgedeckt. Von hier aus nahm die Windhose ihren Weg nach der Wilhelm- und Parkstraße, fast neue Straßenzüge. Auch hier wurden eine ganze Anzahl Dächer abgedeckt, Giebel eingedrückt, in den Gärten gleichfalls furchtbare Verwüstungen angerichtet. Von dem in der Parkstraße gelegenen, dem Sparkassendirektor Kaune gehörenden Wohnhaus ist das Dach vollständig heruntergefegt. An dem Wohnhaus von Appelhans ist das Hintergebäude völlig vernichtet. Ein Schuppen am Wall wurde dem Erdboden gleichgemacht, ebenfalls das dem Webereibesitzer Wagner gehörende Wohnhaus am Wall wurde vollständig abgedeckt und die Trümmer stürzten in das Erdgeschoß, so daß die Bewohner ihre Räume nicht mehr bewohnen können.

Eine ganze Anzahl Familien sind durch die einstürzenden Gebäude und starken Beschädigungen obdachlos geworden. Diese wurden sofort in den Gasthäusern bzw. bei Privatfamilien untergebracht.

Bot das bisher Geschaute schon ein furchtbares Bild der Verwüstung, so wurde dieses noch übertroffen als ich jetzt das Gelände des sogenannten Böhmerhofes betrat, ein großes landwirtschaftliches Besitztum, zwischen Kleinbahn und Waldstraße gelegen.

Ein Gebäude der Böhmer'schen Wassermühle war vollständig abgedeckt, die Trümmer fand ich in etwa 100 Meter Entfernung im Walde unter abgeknickten Bäumen usw. wieder. Der Mühlenteich ist eingefaßt mit einer ganzen Anzahl Pappelbäumen. Diese waren sämtlich in etwa 5-6 Meter Höhe glatt abgebrochen, ebenfalls die dahinter stehenden Obstbäume in dem großen Garten, wie denn überhaupt hier eine Verwüstung angerichtet war, die sich gar nicht in Worten ausdrücken läßt. In dem angrenzenden Wald herrschte ein furchtbares Durcheinander. Dicke Eichenbäume von 40 bis 80 Zentimeter Durchmesser waren glatt geknickt oder entwurzelt, so daß Löcher von mehreren Metern Tiefe entstanden sind. Ganze Dächer wurden hochgehoben und kilometerweit fortgetrieben. Die Stallgebäude haben am meisten gelitten, die Dächer sind zum Teil vollständig zerstört. In einem wüsten Chaos sehe ich entwurzelte Bäume, Gestrüpp, dazwischen Trümmer von landwirtschaftlichen Maschinen usw. usw. Weiter rechts sieht man ein langes Wohnhaus, das von den Familien Klapprott, Fischer, Radeke, Thien und Ober bewohnt wird. Es ist vollständig zertrümmert, Hab und Gut der Familien zum größten Teil vernichtet. Ferner ist das Haus von Kampschulte fast vollständig zerstört. Auch die Siedlung an der örtlichen Stadtflur hat stark gelitten. Das Telephon- und Telegraphennetz war in dem von dem Unglück betroffenen Stadtgebiet natürlich vollständig zerstört, so daß Lingen am Nachmittag und Abend fast von jeder telephonischen und telegraphischen Verbindung abgeschnitten war. Ebenfalls war die Stormzufuhr zum Teil gestört.

Das Gesamtbild, das ich in der kurzen Zeit schaute, war furchtbar. Zwischen den Trümmern sah man die Hilfsmannschaften, die Eigentümer der Häuser, die mit den Räumungsarbeiten beschäftigt waren, oder, soweit es möglich war, Reparaturen vornahmen. Trotz des entsetzlichen Unglücks kann man immer noch mit einer gewissen Genugtuung feststellen, daß Menschenleben wenigstens bis zur Stunde nicht zu beklagen sind. Gewiß sind durch herabstürzende Gesteinsmassen usw. eine Anzahl Personen zum Teil schwer verletzt worden, doch ist zu hoffen, daß sie mit dem Leben davonkommen. Durch die einstürzenden Dächer und Decken wurde in den unteren Räumen der Häuser natürlich ebenfalls größerer Schaden verursacht, da die Wohnungseinrichtungen oder in den Läden von Geschäftshäusern die Waren beschädigt bzw. zertrümmert wurden. Ein Glück war es ferner, daß kein Brand hinzukam, wodurch das Unheil noch vergrößert worden wäre. Die Feuerwehr hat auf dem Marktplatz sämtliche Feuerlöschgeräte aufgefahren, ebenfalls war die Sanitätskolonne alarmiert um da wo es notwendig war, einzugreifen. Die Behörden, die Stadtverwaltung und das Landratsamt trafen sofort alle notwendigen Maßnahmen. Auf Ansuchen des Magistrats stellte die Direktion der Eisenbahnwerkstätte bereitwillig einige hundert Mann, mit den erforderlichen Gerätschaften ausgerüstet, zur ersten Hilfeleistung zur Verfügung. Neben der Feuerwehr waren auch freiwillige Hilfsmannschaften, soweit es möglich war, an dem Rettungswerk beteiligt.

Gleich nach 8 Uhr erschienen auch Regierungspräsident Dr. Sonnenschein und Vizepräsident Schmieder in der schwer heimgesuchten Stadt und besichtigten mit Landrat Dr. Pantenburg und Bürgermeister Gilles die Trümmerstätten. Der Regierungspräsident hat noch am Abend über das furchtbare Unglück einen telegraphischen Bericht nach Berlin gegeben und sofort im Verein mit der Stadtverwaltung eine Hilfsaktion eingeleitet, über die Näheres morgen bekanntgegeben wird. Zunächst müssen die von dem Unwetter Geschädigten sich morgen sofort bei der Stadtverwaltung melden und ihre Schäden, so gut als möglich ist, angeben. Es wird dann das weitere von der Stadt im Verein mit der Regierung veranlaßt werden.

Zu der vorstehenden Schilderung ihres Redaktionsmitgliedes bemerkte die "Osnabrücker Volkszeitung":

Durch die gewaltige Katastrophe, von der die Stadt Lingen gestern nachmittag betroffen wurde, haben eine große Anzahl Familien Hab und Gut verloren, oder aber an ihrem Besitz großen Schaden erlitten. Natürlich kann der Gesamtschaden in seiner ganzen Größe zur Stunde noch gar nicht übersehen werden. Zu der behördlichen Hilfsaktion muß die private Initiative kommen. Staat, Provinz, Regierungsbezirk und Kommunen müssen hier helfen, um den vom Unglück Betroffenen der Stadt Lingen wenigstens etwas Hilfe zu bringen und ihnen einen gewissen Zuschuß zu den Geldopfern zu leisten, die der Wiederaufbau ihres Eigentums erfordert.

Weitere Einzelheiten
Auf den folgenden Blättern seien die von der Presse später noch mitgeteilten Einzelheiten wiedergegeben:

Lingen, 2. Juni. Zu unserem gestrigen Bericht haben wir noch nachzutragen, daß der schwerverletzte Knabe Flerlage heute morgen 5 Uhr gestorben ist. Ferner wurde die Frau Uhrmachermeister Hammele gestern abend in das hiesige Krankenhaus eingeliefert. Heute morgen ist bei Frau Architekt Hans Lühn, welche durch einen aus der Luft herabfallenden Balken am Oberschenkel verletzt wurde, dem Krankenhaus zugeführt worden. Weitere Opfer hat die Windhose bis jetzt, d.h. außer der geringen Zahl Schwerverletzter und Leichtverletzter, Gott sei Dank nicht gefordert. Die von anderen auswärtigen Zeitungen gebrachte Meldung von zwei Toten entspricht nicht den Tatsachen. Außer der Feuerwehr, der Sanitäts-Kolonne, der Arbeiter des hiesigen Reichsbahnausbesserungswerkes, welche mit aufopfernder Mühe dem Rettungswerk oblagen, übernahmen die Mitglieder des hiesigen Bürgerschützenvereins und des Bürgersöhne-Aufzuges (Kievelinger) die Nachtwache. Der Schaden an den Häusern usw. ist noch viel größer, als wir gestern nach dem ersten Eindruck berichteten. In den Gärten sind so ziemlich alle Obstbäume niedergelegt. Nach der vorgenommenen Zählung sind an etwa 500 Häusern die Dächer, Giebel usw. beschädigt. An der Reperatur dieser Häuser wird fieberhaft gearbeitet. Aus den Städten der näheren Umgebung, wie Freren, Nordhorn, Rheine, Hannover, Münster, Dortmund usw. waren an die 20 Pressevertreter mit Automobilen, meist in Begleitung eines Photographen, erschienen, um in Wort und Bild ihren Lesern über die Katastrophe zu berichten. Auch waren verschiedene Schulen und sonstige Personen, teils mit der Bahn, teils mit Kraftwagen, erschienen, um die Verwüstungen in Augenschein zu nehmen.

Lingen am Abend nach der Katastrophe
Aus der Feder ihres nach Lingen entsandten Berichterstatters veröffentlichte die "Osnabrücker Volkszeitung" einen Tag später noch folgendes Stimmungsbild:

In den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen,
Und des Himmels Wolken schauen tief hinein.

Diese Worte des Dichters sind Wirklichkeit für die friedliche, regsame und flott aufstrebende Emslandstadt Lingen mit ihren 11000 Einwohnern, die am 1. Juni der Schauplatz einer furchtbaren Katastrophe war, geworden. Ich habe gestern ein Bild zu geben versucht von den entsetzlichen Wirkungen, die der Wirbelsturm, der kurz nach 5 Uhr am Mittwoch nachmittag die Stadt Lingen heimsuchte, gehabt hat. Das Furchtbare konnte man in der kurzen Zeit kaum fassen. Erst nach und nach kommt einem die Größe des Unheils zum Bewußtsein, das über Lingen hereinbrach.

Vom benachbarten Schepsdorf aus, von Holland kommend, nahm die Katastrophe ihren Anfang. Landschaftlich schön inmitten weiter Wiesen und fruchtbarer Ackerländereinen stehen zwei Neubauten, davon einer vollendet. Der Wirbelsturm deckt ihn ab. Selbst der noch unvollendete wurde zerstört. Hart an der Straße auf der anderen Seite, liegt ein Mehrfamilienhaus. Die Mitte des Hauses, langgestreckt, wurde von dem Ungeheuer aus dem Fundament gehoben, die Mauern weisen starke Risse auf; im übrigen ist diese Behausung, die mehreren Familien unter den heutigen schwierigen Verhältnissen Unterkunft bot, vollständig domoliert, abbruchreif, die Familien obdachlos.

Weiter raste der Sturm. Die wunderbare Allee von Schepsdorf nach Lingen mußte Opfer bringen. Eine Anzahl der großen schlanken Eichen liegt geknickt oder entwurzelt in den Wiesen. Weit abgetrieben sind die Kronen mehrerer Bäume. Die Villa Windhoff bietet ein Greul der Verwüstung. Die Vernichtungen in den wundervollen Gartenanlagen, in den Grünanlagen, in den Obstplantagen, lassen sich nicht beschreiben. Von einem Gebäude des Windhoff'schen Wesens ist das Dach glatt abgeworfen.

Ich komme näher zur Stadt. Das Bild der Zerstörung wird grausiger. In den Bögen, in hübscher Umgebung von Gärten und Grün, ist ein Haus (van Kampen), das wir gestern im Bilde zeigten, vollständig zerstört. Im Erdgeschoß in einem Zimmer betreut eine Mutter ihr Baby. Um sie herum poltert und kracht es, und wie durch ein Wunder, beide, Mutter und Kind, bleiben unversehrt. Hilfsbereite Hände sind an der Arbeit, um das noch vorhandene Hab und Gut der Familie zu bergen und beides bei Freunden und Bekannten unterzubringen.

Ein anderes Bild soll hier gleich festgehalten werden: Durch die Straßen, auf die Dachziegel und Steine niederprasseln, eilt in fliegender Hast eine Frau, eine Mutter, die ihre Kinder einen Augenblick alleine lassen mußte, als das Unglück hereinbrach. Ihr Haus, wie die der Umgebung, ist zerstört. Über die Trümmer hinweg bahnt sich die besorgte Mutter einen Weg, um zu ihren Lieblingen zu gelangen, die sie angesichts der Verwüstungen schon tot wähnt. Siehe da: Ist auch alles zerstört, das Zimmer, in dem die Kinder sich aufhielten, ist unversehrt geblieben. Erstaunt und erfreut drückt die Mutter ihre Kinder ans Herz. Die Frage: "Wie kam alles, wie kam es, daß ihr gerettet wurdet?" beantworten die Kinder mit den Worten: "Mutter, wir haben doch so tüchtig gebetet!" Wer dächte da nicht an der Kinder Schutzengel.

Meine Fragen an die Umstehenden, wie alles kam, bleiben unbeantwortet. Die Bevölkerung ist konsterniert, kopflos. Wenige Minuten waren es: Krachen, Bersten, Heulen; Pfannen, Balken und Sparren flogen durch die Luft, dann war alles geschehen. Noch Schrecklicheres sah ich auf meinem weiten Wege durch die Unglücksstadt. Gespensterhaft ragen die pfannenlosen Dachgiebel zum Abendhimmel empor. Zum Teil sind die Dächer vollständig abgedeckt. Noch immer stürzen Ziegel und Sparren von den Dächern, und ernstlich verwarnt die Feuerwehr die neugierige Menge, um nicht noch mehr Menschenleben in Gefahr zu bringen.

Mit Verwunderung fragt man sich, wie ist es möglich, daß überhaupt so wenig Menschenleben bei dieser Größe und Schwere des Unglücks zu beklagen sind? Ein Knabe, von einem abstürzenden Stein getroffen, ist später im Krankenhause gestorben. Eine Anzahl Schwerverletzter, sechs bis acht - alles übrige, was in dieser Beziehung an Zahlen angegeben wird, ist Phantasie - haben ebenfalls im Krankenhause und bei den Ärzten erste Hilfe gefunden. Hoffentlich gelingt es sie am Leben zu erhalten.

Der Marktplatz: Das altehrwürdige Rathaus ist stark mitgenommen. Das Dach ist abgedeckt, die ausgehobenen und weit fortgeschleuderten Fenster bzw. deren Öffnungen sind mit Brettern vernagelt, ebenso wie die Fenster der benachbarten Häuser des Ratskellers, Gronemeyer, Rakers, Robert usw. Tiefe Trauer liegt auf allen Mienen. Man hadert mit dem Schicksal: Warum mußte gerade uns das Unglück treffen? Hilfsmannschaften, Feuerwehrleute, Arbeiter der Eisenbahnwerkstätte legen kräftig Hand ans Werk, sind mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt; man sieht sie hoch oben auf den Dächern, um Reperaturen auszuführen oder die Bäume zu entfernen, die, wie Streichhölzer geknickt, sich auf die Dächer gelegt haben.

Klubstraße, Gymnasialstraße, Baccumerstraße, Wall, Elisabethstraße. Hier hat wohl das Unwetter am meisten gewütet. Das ganze Viertel ist zum größten Teil vernichtet. Das Hammerle'sche Haus an der Ecke am Marktplatz ist vollständig zerstört. Die Besitzerin, Frau Hammerle, hat man schwerverletzt zum Krankenhaus gebracht, ebenfalls Frau Architekt Lühn, die von einem niederstürzenden Balken lebensgefährlich getroffen wurde. Gespensterhaft ragt von dem Hause van der Velde eine Zimmerdecke in den Abend. Unter derselben ist alles abgestürzt. Nur von einem Holzbalken wird das Trümmerbild noch gehalten.

Jetzt komme ich in den von dem Unwetter wohl am schlimmsten betroffenen Stadtteil. Die Trümmer eingestürzter Giebel und Häuser bedecken die schmalen, engen Straßen. Über die Trümmer hinweg suchen sich die Passanten ihren Weg. Hier sehe ich ein Haus, wo das Dach zum Teil vollständig abgedeckt ist, nicht nur die Pfannen, sondern auch die Balken und Sparren sind abgeworfen worden. Oben im Kniestock ist scheinbar eine Wohnung gewesen. Man sieht die Bilder an der Wand, die Schränke in den Zimmern, nur die Umgebung fehlt. Hier ein anderes Haus, dem das Dach fehlt. Nur die Mauern stehen noch, die Fensterrahmen sind herausgeschleudert, zerrissene Gardinen flattern im Abendwinde. Weiter komme ich zum Schulhof. Ich staune über die furchtbare Kraft der Elemente, die 80 bis 100 Zentimeter starke Bäume glatt entwurzelten oder knickten, und sie auf die umliegenden Häuser warfen. Auch das Krankenhaus hat gelitten. Das Finanzamtsgebäude, das Gerichtsgebäude haben zum größten Teil die Dächer verloren. Dazu aber die vielen kleinen Wohngebäude, gerade in diesem Viertel. Es gleicht einer zerschossenen Stadt. Schlimmere Bilder können auch unsere Feldgrauen nicht geschaut haben. Überall sieht man fleißige Hände an der Arbeit.

Weiterhin hat das Unglück seinen Weg genommen über den folgenden Stadtteil bis zum Böhmerhof. Ein Bild des Entsetzens bietet sich hier. Ich kenne diese herrliche Gutsanlage aus früheren Jahren, ich kenne sie vor dem großen Brande, von dem sie vor einigen Jahren heimgesucht wurde, ich sah sie nach dem Wiederaufbau; ich sehe sie jetzt zerstört. Von der sogenannten Böhmermühle war das Dach eines Hauses vollständig abgedeckt, etwa 150 Meter weit fortgeschleudert. Die schöne Pappelallee an dem Mühlenteich in wenigen Metern Höhe wie abrasiert, die Kronen ebenfalls weit weggeworfen. Alles fand ich später wieder auf dem Hofe selbst in einem wüsten Chaos. In dem herrlichen Obstgarten sind sämtliche Obstbäume entwurzelt. Besonders arg hat die Windhose auf dem herrlichen Hofe, umstanden von einem wunderbaren Eichenwald, gehaust. Bis zu ein Meter dicke Eichen sind entwurzelt oder geknickt und versperren den Besuchern den Weg, oder haben im Fallen andere Bäume mitgerissen und schöne, wertvolle Anlagen zerschlagen. Unermesslicher Schaden ist hier den Besitzern erwachsen. Das Gutsgebäude selbst ist glücklicherweise mehr oder weniger verschont geblieben, dagegen aber sind die Stallgebäude arg mitgenommen, die Dächer zu Teil abgedeckt. Gegenüber in einem Durcheinander von Holzsplittern, Baumkronen usw. sehe ich zerschlagene landwirtschaftliche Maschinen. Dann ein laggestrecktes Wohnhaus, das anscheinend zu dem Gutshaus gehört und von mehreren Familien bewohnt wird. Fünf Familien an der Zahl hatten hier bei der auch in Lingen herrschenden Wohnungsnot Unterkunft gefunden. Das Haus ist sozusagen vollständig demoliert. Erst am Tage vorher ist einer der Bewohner eingezogen. Auch seine Freude, endlich eine Wohnung zu haben, ist zerstört, und mit ihr seine und seiner Mitbewohner Habe. Bei diesem Elend und der Zerstörung ist man in der Tat noch kaum in der Lage, auf die Fragen der Umstehenden zu antworten. Erschüttert wendet man sich ab, um wieder zurückzukehren zur Innenstadt, zum Marktplatz, wo sich inzwischen eine große Menschenmenge angesammelt hat. Alles fragt: Wer hilft uns, wer soll den Schaden wieder gutmachen, wer soll die Kosten für die großen Wiederherstellungsarbeiten bezahlen?

Die Behörden hatten sofort die notwendigen Maßnahmen getroffen. Regierungspräsident, Vizepräsident, der Landrat, der Bürgermeister waren zur Stelle, um zu beraten, wie man den Unglücklichen sofort helfen könne. Über die Maßnahmen der Behörden in dieser Beziehung wird an anderer Stelle berichtet. Zu der behördlichen Hilfe muß aber die private hinzukommen. Helfen müssen alle, die dazu irgendwie in der Lage sind. Wenn irgendwo, so kann sich hier das Gemeinschaftsgefühl, der Gemeinschaftsgeist betätigen. Die betroffenen Familien befinden sich in größter Not, sie sind zum weitaus größten Teile gar nicht in der Lage, die Kosten für den Wiederaufbau ihres zerstörten Gutes zu tragen. Die Allgemeinheit rufen wir deshalb an: Helfet der Unglücksstadt Lingen!

Die Redaktion der "Osnabrücker Volkszeitung" ist gern bereit, an sie eingesandte Gaben an die zuständigen Stellen weiterzuleiten.

Die Hilfsaktion

Sitzung der Städtischen Kollegien Lingen

Am Donnerstag, den 2. Juni, morgens um 9 Uhr fand im Klubrestaurant Baupel eine Plenarsitzung der Städtischen Kollegien unter dem Vorsitz des Bürgermeisters Gilles statt. Zu dieser Sitzung war auch Landrat Dr. Pantenburg erschienen. Bürgermeister Gilles sprach im Namen des Regierungspräsidenten, des Regierungs-Vizepräsidenten, des Landrats und im Namen der Stadtverwaltung den geschädigten Einwohnern der Stadt herzliche Teilnahme aus. Den Hilfsmannschaften des Reichsbahnausbesserungswerkes, der Feuerwehr, der Sanitätskolonne, dem Schützen- und Kieverlingsverein sprach er den Dank der Stadtverwaltung und seinen persönlichen Dank aus für ihre Hilfeleistung.

Hierauf schlug Bürgermeister Gilles vor, eine Kommission zum preußischen Staatsministerium zu entsenden, um diesem Bericht über den durch die Unwetterkatastrophe verursachten Schaden zu erstatten und um finanzielle Hilfe zu bitten. Gleichzeitig sollen die Abgeordneten des hiesigen Bezirks auch von dieser Sachlage unterrichtet werden. Aus der Versammlung wurde Bürgermeister Gilles und Landrat Dr. Pantenburg vorgeschlagen. Nach längerer Aussprache wurden Bürgermeister Gilles und Landrat Dr. Pantenburg als offizielle Kommissionsmitglieder einstimmig gewählt und dieser Kommission anheimgegeben, Studienrat Schwenne, falls er nicht zu Lasten der Stadt fahre, mitzunehmen. Studienrat Schwenne wird daher auf Beschluß des Vorstandes der Zentrumspartei sich der gewählten Kommission im Interesse der Einwohner der Stadt Lingen anschließen. Ferner teilte Bürgermeister Gilles mit, daß die Kreissparkasse 100 000 Reichsmark Kredite zu 4 Prozent für Geschädigte bereitgestellt habe. Senator Koke berichtete hierauf, daß die Städtische Sparkasse eine Summe von 50 000 Mark zur Verfügung der Geschädigten stelle. Des weiteren beschlossen die Kollegien nach kurzer Aussprache:

Es wird beschlossen, von den für die Staatsaktion zugunsten der Geschädigten erforderlichen Mittel stadtseitig ein Sechstel zu übernehmen. Der Magistrat wird ermächtigt, im Notfalle Zwischenkredite aufzunehmen. Die Mittel sollen durch Anleihe gedeckt und zu den günstigsten Bedingungen aufgenommen werden.

Hierauf wurde eine Abschätzungskommission, bestehend aus Baurat Weinmann, Dachdeckermeister Borchard, Bau-Unternehmer Lühn, Zimmermeister Hoff, Tischlermeister Terstiege, Forstmeister Scholz, Beamtenanwärter van Kampen und Studienrat Fuhs, einstimmig gewählt. Weiter beschlossen die Kollegien, die Beerdigungskosten für den bei der Unwetterkatastrophe um Leben gekommenen Knaben Flerlage auf Staatskosten zu übernehmen. Bei der Städtischen Sparkasse und bei der Kreissparkasse sollen Sammelstellen für eine Hilfsaktion errichtet werden.

Bericht der nach Berlin entsandten Lingener Kommission.
Empfang beim Reichspräsidenten, beim Reichskanzler und im Reichsfinanzministerium.

Auf Anregung des Regierungspräsidenten Dr. Sonnenschein (Osnabrück) - der sich bereits am Abend des Unglückstages mit dem Vizepräsidenten Schmieder nach Lingen begeben und dort nach eingehender bis tief in die Nacht hinein dauernder Besichtigung, sofort die Hilfsaktion des Staates in die Wege leitete - reiste am folgenden Abend, 2. Juni, eine Kommission bestehend aus den Herren Bürgermeister Gilles und Landrat Dr. Pantenburg nach Berlin; ihr schloß sich an Studienrat Schwenne, der Vorsitzende der Zentrumspartei Emsland, der bereits nach Osnabrück vorausgefahren war, um dem hochwürdigen Bischof über die furchtbare Katastrophe mündlich Bericht zu erstatten und ihm im Namen von Stadt und Kreis Lingen für seine Anteilnahme und seine hochherzige Spende zu danken. Außerdem gesellte sich zu der Kommission Landtagsabgeordneter Prof. Grebe. Es war kalte, trübe Nacht, als der Zug um 1.32 Uhr in Osnabrück aus dem Bahnhof rollte. Nur dann und wann stellte sich trotz der Aufregung der letzten Tage der Schlaf ein, doch bald waren die Gedanken wieder auf dem Trümmerfeld in der Heimat. Immer wieder drängt sich den Mitgliedern die bange Frage auf, wird man uns sofort ausreichende Mittel für den notwendigen Wiederaufbau zur Verfügung stellen? Pünktlich gegen 7.30 Uhr lief der Zug in Berlin auf dem Bahnhof Friedrichstraße ein. Sofort konnte die Kommission feststellen, daß die Berliner Zeitungen bereits in großer Aufmachung von dem Tornado meldeten. Dank der Vorsorglichkeit des Bürgermeisters Gilles brachten viele Zeitungen auch bereits Aufnahmen von zertrümmerten Häusern. Abgeordneter Prof. Grebe begab sich sofort zum Preußischen Landtag, wo er die preußischen Minister für Wohlfahrt, Inneres und Finanzen antraf und sie alle drei durch Schilderung des persönlichen Eindrucks in Lingen für eine sofortige staatliche Hilfsaktion zu gewinnen wußte. Die anderen Herren der Kommission fuhren zum

Preußischen Innenministerium ,

wo sie bereits von Regierungspräsident Dr. Sonnenschein erwartet wurden, der nunmehr die Führung der Kommission bei den verschiedenen Ressorts übernahm. Die Schilderungen des entsetzlichen Naturereignisses machten ersichtlich tiefen Eindruck und die zahlreichen mitgebrachten Lichtbilder bewiesen nur zu deutlich, daß die Darstellungen in keiner Hinsicht übertrieben waren. Da der Innenminister gerade zu einer Kabinettsitzung beschieden war, konnte er nur auf wenige Minuten Regierungspräsident Dr. Sonnenschein empfangen. Den geschickten Verhandlungen unseres Regierungspräsidenten ist es gelungen, für die drei geschädigten Emslandbezirke Lingen, Meppen, Bentheim,

200 000 Mark

zur Linderung der ersten Not zu erhalten, ohne daß diese Summe auf die weitere Unterstützungsaktion des Staates angerechnet wird. Die Kommission war freudig bewegt, als Staatssekretär Abegg diese Mitteilung machte und weiter in bewegten Worten das Beileid des preußischen Innenministers zum Ausdruck brachte. Nachdem Regierungspräsident Dr. Sonnenschein auftragsgemäß die Unterverteilung vorgenommen hatte, wurde die Regierung in Osnabrück und der Magistrat in Lingen sofort telephonisch von dem Erfolg in Kenntnis gesetzt.

Dann begab sich die Kommission zum preußischen Staatsministerium. Leider war die Sitzung bereits zu Ende und die Mitglieder nicht mehr anwesend. Man entschloß sich zunächst, den Landwirtschaftsminister Dr. Steiger, der bereits verschiedentlich in Lingen war, aufzusuchen. Da der Minister sich auf einer Dienstreise befand, wurde die Kommission vom Staatssekretär Ramm empfangen. Tief bewegt nahm dieser den Bericht des Regierungspräsidenten Dr. Sonnenschein entgegen, der wiederum auch durch die anderen Herren durch die vorgelegten Photographien erläutert wurde. Den Bericht und die Wünsche der Kommission nahm Staatssekretär Ramm zu Protokoll und versprach, diese dem Landwirtschaftsminister sofort nach seiner Rückkehr zur Kenntnis zu unterbreiten. Mittlerweile war auch an Studienrat Schwenne ein längeres Telegramm eingelaufen, in dem der Minister der Bevölkerung seine innige Teilnahme aussprach. Staatssekretär Ramm zog darauf die Herren noch in ein längeres Gespräch, das sich besonders auf die Moorkultivierung und andere landwirtschaftliche Fragen des Emslandes bezog.

Nachdem nunmehr Regierungspräsident Dr. Sonnenschein, dem die Bevölkerung von Stadt und Kreis Lingen für sein rasches, energisches und erfolgreiches Bemühen außerordentlich dankbar sein muß, die Kommission verlassen hatte, um noch mit Professor Grebe zu verhandeln, versuchten die Herren Landrat Dr. Pantenburg, Bürgermeister Gilles und Studienrat Schwenne noch eine

Audienz beim Reichskanzler Dr. Marx

zu erhalten. Durch eine glückliche Fügung traf Studienrat Schwenne den Reichsgeneralsekretär der deutschen Zentrumspartei, Dr. Bockel, der in liebenswürdiger Weise sofort bereit war, eine Audienz beim Reichskanzler zu vermitteln. Wenige Minuten später wurden die Lingener Herren in das Privatzimmer des Reichskanzlers geführt und konnten die Katastrophe schildern, über die der Kanzler übrigens durch die Presse und durch den Abgeordneten Professor Grebe gut unterrichtet war. Großes Interesse bekundete der Reichskanzler für die Lichtbilder, die Bürgermeister Dr. Gilles und Landrat Dr. Pantenburg erklärten. Der Reichskanzler sprach dann im Namen der Reichsregierung der schwerbetroffenen Bevölkerung des Emslandes seine innigste Teilnahme aus und versprach, sich beim Reichsfinanzminister dafür einzusetzen, daß auch das Reich mit einem namhaften Betrage zu Hilfe komme.

Es war bereits gegen 5 Uhr nachmittags, als die Kommission an ein Mittagessen denken konnte. Studienrat Schwenne fuhr noch zu informatorischen Zwecken zum Reichsarbeitsministerium, zu den Hilfskassen für soziale Wohlfahrtseinrichtungen und zur Caritaszentrale. Auf seine Anregung beschloß die Kommission, die sich am Abend nochmals zusammenfand, am folgenden Tage beim Reichspräsidenten v. Hindenburg um eine Audienz nachzusuchen. Als sich die Herren am Sonnabend gegen 9.30 Uhr im Palais des Reichspräsidenten trafen, wurde ihnen von Ministerialrat Döhle in bestimmte Aussicht gestellt, daß der Reichspräsident sie empfangen würde, obgleich die Kommission vorher nicht angemeldet war. Man war im Vorzimmer des Reichspräsidenten. Hier wurde der Kommission zunächst anheimgegeben, sich bezüglich einer Zuwendung mit den Referenten im Reichsfinanzministerium in Verbindung zu setzen. Also auf

zum Reichsfinanzministerium!

Dort wurde die Kommission sehr freundlich empfangen, zum Ministerialdirektor geführt, der sich sehr eingehend Bericht erstatten ließ. Bürgermeister Gilles gab an Hand des Etats auch einen Überblick über die durch verschiedene Umstände ungünstige Finanzlage der Stadt Lingen. Mittlerweile war bereits aus dem Vorzimmer des Reichspräsidenten angerufen, und die Herren der Kommission wurden zur Audienz gebeten. Unter Führung des Ministerialrats Döhle betrat die Kommission das Arbeitszimmer des

Reichspräsidenten v. Hindenburg,

der die Herren in herzlicher Weise begrüßte und sie mit sichtlicher Anteilnahme bat, der schwergeprüften Bevölkerung der Stadt Lingen sein innigstes Beileid auszusprechen. Der Reichspräsident machte einen recht frischen Eindruck. Er schien eher ein Sechziger als ein Achtziger zu sein. Landrat Dr. Pantenburg erläuterte an Hand der Lichtbilder die Größe des Unglücks. Währenddessen stellte der Reichspräsident eine Reihe von Fragen, die sein besonderes Interesse wie auch seine geistige Regsamkeit bekundeten. Er bewilligte dann für die durch die Wirbelsturmkatastrophe Geschädigten im Emsland und in Oldenburg aus seinem Dispositionsfonds 200 000 Mark. Mit herzlichem Dank verabschiedete er nach etwa 10 Minuten die Kommission.

Die Kommission hat sofort telephonisch die Lingener Bevölkerung von der hochherzigen Spende des Herrn Reichspräsidenten verständigt. Während Bürgermeister Gilles nach Lingen telephoniert begaben sich Landrat Dr. Pantenburg und Studienrat Schwenne zum Vertreter des Reichsarbeitsministeriums. Ministerialdirektor Ritter, der bereits die Berichte der "Osnabrücker Volkszeitung" über das Unglück gesammelt und dem abwesenden Reichsarbeitsminister eingehend telegraphischen Bericht erstattet hatte, versprach im Namen des Reichsarbeitsministers, den vom Unglück betroffenen Eingesessenen des Wahlkreises des Ministers Dr. Braums zu helfen, soweit dieses im Ressort des Reichsarbeitsministeriums möglich sei.

Es waren nur noch wenige Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Dann traf die Kommission noch den Landtagsabgeordneten Blank, der nach Hannover zurückfuhr. Auch er war bereits für die Lingener Geschädigten tätig gewesen und versprach, sich auch weiter energisch für die Hilfsaktion einzusetzen.

Der Erfolg der Kommission ist besonders zurückzuführen auf die rasche und energische Arbeit der Herren Bürgermeister Gilles und Landrat Dr. Pantenburg vom ersten Augenblick nach dem Unglück an, der klugen und zielsicheren Führung des Regierungspräsidenten und nicht zum wenigsten der raschen Hilfsbereitschaft der Abgeordneten des Zentrums.

Regierungspräsident Dr. Sonnenschein sandte am 3. Juni an die Regierung in Osnabrück folgendes Telegramm ab:

Nach meinem Vortrag bei dem Herrn Innenminister Grzesinski hat Staatsministerium soeben beschlossen, betroffener Bevölkerung herzliches Beileid der Staatsregierung auszusprechen. Staatssekretär Abegg hat mich ersucht,

200 000 Reichsmark

welche nicht Vorschuß auf Staatsmittel darstellen, sofort unterzuverteilen. Ersuche, Regierungshauptkasse sofort anzuweisen,

125 000 RM. der Stadtsparkasse Lingen zur Verfügung Bürgermeister,
47 000 RM. der Kreissparkasse Lingen zur Verfügung Landrat,
20 000 RM. Kreissparkasse Bentheim zur Verfügung Landrat Bentheim,
8 000 RM. Stadtsparkasse Meppen zur Verfügung Landrat Meppen

überweisen und Verfügungsberechtigte verständigen. Behalte mir vorsichtshalber nachträgliche anderweitige Verteilung vor. Einheitskommission gemäß Vorschlag Magistrat Lingen. - Bericht 2. 6. Nr. 2031 widerruflich bestätigt.

Regierungspräsident Dr. Sonnenschein

Anmerkung:
Soweit die Auszüge aus der Dokumentation von 1927. Es folgen zahlreiche Beileidstelegramme, eine Pressemeldung über ein Wohltätigkeitskonzert und eine Auflistung von Spendern, die hier aber nicht wiedergegeben werden sollen. Offenbar ist die Windhose im weiteren Verlauf auch über die Bauernschaft Auen-Holthaus (Lindern) gezogen und hat diese weitgehend zerstört. Im Hümmling war der Ort Vrees betroffen.

blitzwetter.de