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PLATON

ZEIT

Sie kön­nen nicht an­ders

 

Wem nützt ei­gent­lich der Krieg? Na­tür­lich den Ty­ran­nen. Das Volk könn­te sonst auf die Idee kom­men, es brau­che sie gar nicht. Von Pla­ton, ca. 370 v. Chr.

30. Sep­tem­ber, Mos­kau, Kreml: Wla­di­mir Pu­tin mit ukrai­ni­schen Se­pa­ra­tis­ten­füh­rern nach der amt­li­chen rus­si­schen An­ne­xi­on ih­rer Ge­bie­te

Je­ner Vor­ste­her aber sitzt nun nicht et­wa nur groß in gro­ßer Herr­lich­keit, son­dern, nach­dem er vie­le an­de­re zu Bo­den ge­wor­fen, steht er of­fen­bar in dem Wa­gen des Staats und lenkt ihn al­lein, und ist nun aus ei­nem Vor­ste­her voll­stän­dig ein Ty­rann ge­wor­den. – Wie soll­te er nicht? sag­te er. – So lass uns denn, sprach ich, die Glück­se­lig­keit des Man­nes so­wohl als des Staa­tes durch­ge­hen, in wel­chem ein sol­cher Sterb­li­cher auf­ge­kom­men ist. – Al­ler­dings, sag­te er, wol­len wir das. – Wird er nun nicht in der ers­ten Zeit wohl Al­le an­lä­cheln und be­grü­ßen, wem er nur be­geg­net, und be­haup­ten, er sei gar kein Ty­rann, und ih­nen vie­ler­lei ver­spre­chen ein­zeln und ge­mein­sam, wie er denn auch Be­frei­ung von Schul­den und Ver­tei­lung von Äckern dem Vol­ke ge­währt und de­nen, die ihn um­ge­ben, und wird sich ge­gen al­le güns­tig und mild an­stel­len? – Not­wen­dig, sag­te er. – Wenn er aber, den­ke ich, mit den äu­ße­ren Fein­den sich teils ver­tra­gen, teils sie auf­ge­rie­ben hat und al­so Ru­he vor je­nen ge­wor­den ist, dann regt er zu­erst im­mer ir­gend­ei­nen Krieg auf, da­mit das Volk ei­nes An­füh­rers be­dür­fe. – Na­tür­lich wohl. – Nicht auch da­mit sie durch star­ke Auf­la­gen ver­ar­mend ge­nö­tigt wer­den, an den täg­li­chen Be­darf zu den­ken, und ihm we­ni­ger nach­stel­len kön­nen? – Of­fen­bar. – Und auch, den­ke ich, wenn er Ei­ni­ge im Ver­dacht hat, dass sie frei­sin­nig wä­ren und ihn nicht wür­den fort­herr­schen las­sen, da­mit er die auf gu­te Art aus dem We­ge schaf­fen kön­ne, in­dem er sie den Fein­den Preis gibt? Ist es nicht aus al­len die­sen Ur­sa­chen ei­nem Ty­ran­nen im­mer not­wen­dig, Krieg zu er­re­gen? – Not­wen­dig. – Und wenn er so han­delt, ist es doch na­tür­lich, dass er den Bür­gern im­mer mehr ver­hasst wer­de? – Wie soll­te er nicht? – Und wer­den dann nicht ei­ni­ge von de­nen, die ihn ha­ben ein­set­zen hel­fen und mäch­tig sind, ge­gen ihn und un­ter sich frei mit der Spra­che her­aus­ge­hen und ta­deln, was ge­schieht, we­nigs­tens die herz­haf­tes­ten un­ter ih­nen? – Wahr­schein­lich ja! – Und al­ler die­ser muss der Ty­rann sich ent­le­di­gen, wenn sei­ne Herr­schaft be­stehen soll, bis we­der von Feind noch Freund ir­gend­ei­ner üb­rig ist, der et­was taugt. – Of­fen­bar. – Gar scharf al­so muss er se­hen, wer tap­fer ist und wer gro­ßher­zig, wer klug ist und wer reich. Und so glück­se­lig ist er, dass er die­sen al­len, mag er nun wol­len oder nicht, not­wen­dig Feind ist, und ih­nen nach­stellt, bis er die Stadt ge­rei­nigt hat. – Ei­ne schö­ne Rei­ni­gung! sag­te er. – Frei­lich, sprach ich, ent­ge­gen­ge­setzt der wie die Ärz­te den Leib rei­ni­gen; denn die­se füh­ren das Schlech­tes­te aus und las­sen das Bes­te üb­rig, er aber um­ge­kehrt. – Und doch, sag­te er, kann er, wie es scheint, nicht an­ders, wenn er herr­schen will.

Pla­ton: »Po­li­teia« Bis heu­te ist nicht ge­klärt, ob das Ge­mein­we­sen, das der Phi­lo­soph ent­wor­fen hat, als Uto­pie ver­stan­den wer­den soll­te oder als rea­li­sier­ba­rer Ent­wurf ei­nes tat­säch­li­chen Staa­tes. Aus: Pla­ton, Sämt­li­che Wer­ke, Bd. 2. 2004, Ro­wohlt, Rein­bek

Sie kön­nen nicht an­ders

Wem nützt ei­gent­lich der Krieg? Na­tür­lich den Ty­ran­nen. Das Volk könn­te sonst auf die Idee kom­men, es brau­che sie gar nicht. Von Pla­ton, ca. 370 v. Chr.

30. Sep­tem­ber, Mos­kau, Kreml: Wla­di­mir Pu­tin mit ukrai­ni­schen Se­pa­ra­tis­ten­füh­rern nach der amt­li­chen rus­si­schen An­ne­xi­on ih­rer Ge­bie­te

Je­ner Vor­ste­her aber sitzt nun nicht et­wa nur groß in gro­ßer Herr­lich­keit, son­dern, nach­dem er vie­le an­de­re zu Bo­den ge­wor­fen, steht er of­fen­bar in dem Wa­gen des Staats und lenkt ihn al­lein, und ist nun aus ei­nem Vor­ste­her voll­stän­dig ein Ty­rann ge­wor­den. – Wie soll­te er nicht? sag­te er. – So lass uns denn, sprach ich, die Glück­se­lig­keit des Man­nes so­wohl als des Staa­tes durch­ge­hen, in wel­chem ein sol­cher Sterb­li­cher auf­ge­kom­men ist. – Al­ler­dings, sag­te er, wol­len wir das. – Wird er nun nicht in der ers­ten Zeit wohl Al­le an­lä­cheln und be­grü­ßen, wem er nur be­geg­net, und be­haup­ten, er sei gar kein Ty­rann, und ih­nen vie­ler­lei ver­spre­chen ein­zeln und ge­mein­sam, wie er denn auch Be­frei­ung von Schul­den und Ver­tei­lung von Äckern dem Vol­ke ge­währt und de­nen, die ihn um­ge­ben, und wird sich ge­gen al­le güns­tig und mild an­stel­len? – Not­wen­dig, sag­te er. – Wenn er aber, den­ke ich, mit den äu­ße­ren Fein­den sich teils ver­tra­gen, teils sie auf­ge­rie­ben hat und al­so Ru­he vor je­nen ge­wor­den ist, dann regt er zu­erst im­mer ir­gend­ei­nen Krieg auf, da­mit das Volk ei­nes An­füh­rers be­dür­fe. – Na­tür­lich wohl. – Nicht auch da­mit sie durch star­ke Auf­la­gen ver­ar­mend ge­nö­tigt wer­den, an den täg­li­chen Be­darf zu den­ken, und ihm we­ni­ger nach­stel­len kön­nen? – Of­fen­bar. – Und auch, den­ke ich, wenn er Ei­ni­ge im Ver­dacht hat, dass sie frei­sin­nig wä­ren und ihn nicht wür­den fort­herr­schen las­sen, da­mit er die auf gu­te Art aus dem We­ge schaf­fen kön­ne, in­dem er sie den Fein­den Preis gibt? Ist es nicht aus al­len die­sen Ur­sa­chen ei­nem Ty­ran­nen im­mer not­wen­dig, Krieg zu er­re­gen? – Not­wen­dig. – Und wenn er so han­delt, ist es doch na­tür­lich, dass er den Bür­gern im­mer mehr ver­hasst wer­de? – Wie soll­te er nicht? – Und wer­den dann nicht ei­ni­ge von de­nen, die ihn ha­ben ein­set­zen hel­fen und mäch­tig sind, ge­gen ihn und un­ter sich frei mit der Spra­che her­aus­ge­hen und ta­deln, was ge­schieht, we­nigs­tens die herz­haf­tes­ten un­ter ih­nen? – Wahr­schein­lich ja! – Und al­ler die­ser muss der Ty­rann sich ent­le­di­gen, wenn sei­ne Herr­schaft be­stehen soll, bis we­der von Feind noch Freund ir­gend­ei­ner üb­rig ist, der et­was taugt. – Of­fen­bar. – Gar scharf al­so muss er se­hen, wer tap­fer ist und wer gro­ßher­zig, wer klug ist und wer reich. Und so glück­se­lig ist er, dass er die­sen al­len, mag er nun wol­len oder nicht, not­wen­dig Feind ist, und ih­nen nach­stellt, bis er die Stadt ge­rei­nigt hat. – Ei­ne schö­ne Rei­ni­gung! sag­te er. – Frei­lich, sprach ich, ent­ge­gen­ge­setzt der wie die Ärz­te den Leib rei­ni­gen; denn die­se füh­ren das Schlech­tes­te aus und las­sen das Bes­te üb­rig, er aber um­ge­kehrt. – Und doch, sag­te er, kann er, wie es scheint, nicht an­ders, wenn er herr­schen will.

Pla­ton: »Po­li­teia« Bis heu­te ist nicht ge­klärt, ob das Ge­mein­we­sen, das der Phi­lo­soph ent­wor­fen hat, als Uto­pie ver­stan­den wer­den soll­te oder als rea­li­sier­ba­rer Ent­wurf ei­nes tat­säch­li­chen Staa­tes. Aus: Pla­ton, Sämt­li­che Wer­ke, Bd. 2. 2004, Ro­wohlt, Rein­bek